Lesereise Normandie - der Austernzüchter lädt zum Calvados
Ärmelkanal gelegene Städtchen umtriebige Menschen hervor: Von Granville brachen im 16. Jahrhundert die ersten wagemutigen Normannen auf, um vor Neufundland zu fischen. Wie die Kollegen aus Saint-Malô verbrachten die Fischer Granvilles viele Wochen auf Fischzügen an den fernen Gestaden Nordamerikas. Sie begründeten damit auch einen Schiffsbau-Boom in ihren Heimathäfen, von denen bis heute die Reedervillen über dem Hafen zeugen. 1923 wurde der stolze Dreimaster »Le Marité« als letztes Schiff für die Fahrten der Fischer von Granville nach Neufundland fertiggestellt. Die »Marité« lässt sich heute für Segelturns chartern und ist ansonsten im Hafen zu bewundern.
Die Grand’Porte führt in eine andere Welt: die stille Oberstadt Hauteville, in deren engen Gassen sich historische Häuser drängen, schmal wie Handtücher und voller Charme. Während in der Unterstadt und rund um die Hafenbecken saisonal das Leben tobt, ist es hier oben ruhig: Nur einen kleinen Laden gibt es, in dem Brot und Zeitungen verkauft werden. Jeder kennt jeden, und voll ist es nur, wenn im Juli und August die Pariser anreisen und viele der alten Granitsteinhäuser mit Ferienlärm füllen. »Wenigstens gibt es durch den Leerstand während des größten Teils des Jahres fast immer genug Parkplätze«, erklärt lakonisch Alizée Baulme. Kürzlich erst ist sie aus Saint-Malô hergezogen und dem dörflichen Frieden der kleinen Oberstadt sofort erlegen.
Früher diente der steinerne Glockenturm der auf der höchsten Klippe der Stadt gelegenen Kirche Notre-Dame de Cap Lihou auch als Leuchtturm. Der ist mittlerweile als eigenständiges Bauwerk am westlichen Ende der Altstadt zu finden. Im Inneren des schönen Kirchleins ist die Nähe zur See auch ohne Meerblick noch sichtbar: In der Seitenkapelle hängen gleich drei Schiffe als Sinnbild der Bitte um ruhige Gewässer.
Heute geht dieser Wunsch in Erfüllung. Als es Abend wird, hat das Meer sich weit zurückgezogen. Die Boote im Hafenbecken sind auf die Seite gesackt und liegen im Schlick. Viele Stunden wird es dauern, bis sie wieder auslaufen können. Fast sieht es aus, als genössen sie die Stille.
Champagner für den Untergang
Der Transatlantikhafen von Cherbourg war einstmals eines der Tore Europas nach Amerika
Es war der schickste Seebahnhof, den man sich vorstellen konnte: Die Züge aus Paris fuhren direkt bis in die Halle des Passagierschiffterminals. Trockenen Fußes gingen die Passagiere vom Eisenbahnabteil durch den Art-déco-Bau bis an Bord der Zubringerboote, die sie zu den großen Schiffen in der Mitte des Hafenbeckens von Cherbourg schaukelten. Liz Taylor und Robert Mitchum gehörten zu den glamourösen Reisenden, die die schnelle Verbindung zwischen Paris und New York gerne nutzten.
Den Gesetzmäßigkeiten der Ironie folgend, begann der Stoßverkehr über den Atlantik abzuebben, bald nachdem das neue See-Terminal 1927 eröffnete. Während des Zweiten Weltkriegs sollten nur wenige Schiffe verkehren, der U-Boot-Krieg machte die Ozeanquerung hochriskant. Nach dem Krieg kam auch der schnellste Dampfer nicht mehr gegen die Konkurrenz des sich entwickelnden Luftverkehrs an.
In der restaurierten Zollhalle beginnt die Dauerausstellung über den letzten Halt der Titanic auf dem Kontinent. Das im transatlantischen Fährhafen gelegene Meeresmuseum »La Cité de la Mer« besaß schon seit dem Jahr 2002 ein sehenswertes, fast elf Meter tiefes Aquarium – das tiefste in Europa – und mit der »Le Redoutable« zudem das größte zu besichtigende Atom-U-Boot der Welt. Zum hundertsten Jahrestag der Havarie im April 2012 schenkte es sich in sicherer Erwartung großen Publikumsandrangs auch noch die Titanic-Ausstellung. Die Rechnung ging auf. Die tragische Geschichte übt mit ihrer Mischung aus Glamour, menschlicher Hybris und unvorstellbarem Schrecken eine Faszination aus, der die Zeit anscheinend nichts anhaben kann. Alleine in den ersten beiden Monaten nach der Eröffnung besuchten achtzigtausend Menschen das Museum.
Für Cherbourg, das selbst nur rund vierzigtausend Einwohner zählt, ein hochwillkommener Impuls. Die Geschichte der an der Nordspitze der Halbinsel Cotentin gelegenen Stadt ist eindrucksvoll: Die erste Kirche auf dem Grund der heutigen Basilique de la Trinité ließ William der Eroberer bauen. Schon bald sollte das Militär die Stadt prägen, die bis zum Ende des 17. Jahrhunderts als Festung angelegt war. England gegenüber gelegen, wurde sie im Hundertjährigen Krieg sechs
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