Lesereise Paris
Missverständnis verführte: Während der Staatskrise um Charles de Gaulles Rückkehr an die Macht im Jahr 1958 erlebte der neu ernannte Korrespondent zum ersten Mal, wie die Pariser bei ihrem saisonalen Auszug mit angespannten Mienen in vollgepackten Autos sitzen und unter gewagten Überholmanövern aus der Stadt preschen. Da der Kollege noch nicht gut Französisch verstand, berichtete er in seiner Zeitung, die Pariser Bevölkerung mache sich aus Angst vor einem Bürgerkrieg auf die Flucht.
Um so rätselhafter, dass die Kombination von offenem Himmel und Wasser gerade in der Hauptstadt mit der umliegenden Region Île-de-France, wo zehn bis zwölf Millionen Menschen leben, so rar ist. Der Bois de Boulogne, der Bois de Vincennes, die beiden großen Parks am westlichen und östlichen Rand von Paris, haben Teiche und Seen. Man kann auf ihnen rudern, die Enten füttern, halb legal angeln, sich von einem Fergen zu einer Insel mit Restaurant übersetzen lassen. Aber schwimmen können dort nur Hunde. Im Jardin d’Acclimatation, einem Vergnügungs- und Lernpark innerhalb des Bois de Boulogne, existiert ein Planschbecken speziell für Kinder. Es ist überfüllt und gut vierzig Zentimeter tief. Die Seine-Quais, so weit sie nicht Autoschnellwege sind, werden schon beim ersten Sonnenstrahl im Lenz zum Pflasterstrand – aber allein zwecks Bräunung. Der Fluss selber lädt auch Abgebrühte nicht mehr zum Bade.
Nostalgiker der Piscine Deligny lehnen noch immer am Ufergeländer vor dem Musée d’Orsay und blicken auf die eisernen Reste. Gibt es denn wirklich keinen Ersatz? »Soll ich vielleicht in ein Hallenbad gehen, Monsieur?«, fragt der flotte Mann in den besten Jahren, die Mundwinkel entsagungsvoll herabgezogen. Hallenbäder gibt es zu Dutzenden. Das schönste war, darüber sind sich alle einig, die Piscine Molitor in Auteuil, ein Monument des Art-déco-Stils, das sogar unter Denkmalschutz stand. Hier wurden 1934 die ersten Modefotos im Badeanzug gemacht, hier hat man 1946 den Bikini kreiert. André Cayatte und andere bauten die Piscine Molitor in Filme ein. Im Winter konnte man Schlittschuh laufen. »Konnte«, »stand unter Denkmalschutz«, »war«: Die Piscine Molitor ist seit Jahren wegen Hinfälligkeit vermauert und steht in Gefahr, den Baulöwen vorgeworfen zu werden.
»Schauen Sie sich doch so ein Hallenbad an, Monsieur! Gehen Sie zur Tour Montparnasse!« Tatsächlich, unter dem mehr als zweihundert Meter hohen Wolkenkratzer, der seit den siebziger Jahren die Pariser Stadtsilhouette versaut, wird Wassersport getrieben. Man kann es sogar von außen verfolgen, durch große beschlagene Scheiben, und der Chlorgeruch dringt durch die Entlüftungsschlitze. Genau wie unter den Hallen, dem einstigen Bauch von Paris, der mangels besserer Ideen durch Einkaufs- und Amüsier-Prothesen einer Art ersetzt wurde, wie andere Metropolen sie schamhaft weit draußen an der Peripherie errichten. Auch das Hallenbad in den Hallen, mit seinem künstlichen, gebrochenen Licht einem Aquarium nicht unähnlich, hat dem Naturfreund wenig zu bieten. Rhythmisch tauchen Bademützen aus dem Wasser. Ein bleicher Schwimmer schwingt sich aus dem Bassin, starrt mit rot geränderten Augen durchs Fenster nach draußen und springt wieder in die Fluten.
Eine andere Art des öffentlichen Bades wird durch die allgemeine Duschkultur und gestiegene Hygienestandards bedroht. Seit jeder in die eigene Wanne steigt oder zu Hause braust, werden bains-douches , wie es sie früher in allen Pariser Vierteln gab, immer weniger gebraucht. Im Marais ist ein architektonisch interessantes Schwitzbad zur Boutique einer Konfektionskette geworden. Nur die Mosaikschrift »Hammam« an der Fassade kündet noch von der nassen Vergangenheit. In anderen Bädern wird weiter geschwitzt. Sie sind jetzt Diskotheken.
Dafür sind am Stadtrand einige moderne »Erlebnisbäder« entstanden, mit Rutschbahnen, Wellenschlag, Wasserwirbeln und Tahiti-Kulisse. Volkstümliche Preise gehören nicht zu ihren Vorzügen. Die besseren unter den neuen Hallenbädern können bei schönem Wetter ihr Dach einfahren, oder wenigstens einen Teil davon. Aber für unseren Mann in den besten Jahren ist so etwas nur »technischer Firlefanz«. Erinnerungsfroh gehen seine Mundwinkel nach oben. Er hatte bei Deligny nach eigener Aussage einige der schönsten Stunden seines Lebens – »wenn auch nicht unbedingt im Wasser, Monsieur!«
Den aufs Trockene Gesetzten bietet Paris im Sommer andere Kompensationen. Die
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