Lesereise Paris
schütteln. Denn Marcel Chevalier ist Henker.
Wie wird man Scharfrichter? Marcel Chevalier lernte als junger Mann bei einem Ausflug in den Wald von Fontainebleau ein Mädchen kennen, ohne zunächst zu wissen, dass er die Nichte des Henkers vor sich hatte. Die Heirat mit ihr bedeutete zugleich den Einstieg in den Nebenberuf, denn das Gewerbe des staatlichen Exekutors ist in Frankreich traditionell Familiensache. Von 1689 bis 1847 gingen Axt und Fallbeil generationenweise jeweils von Sanson-Vater auf Sanson-Sohn über. Das Amt übernahm dann der Gehilfe des letzten Sanson, Joseph Heidenreich, der die Guillotine 1872 seinem Lehrling Nicolas Roch übergab. Nur sieben Jahre später begründete dessen Adlatus Louis Deibler die zweite Dynastie. Deibler jr. richtete von 1899 bis 1939 hin, sein Schwager Desfourneaux bis 1951 und dessen Neffe André Obrecht bis 1977, als die Nachfolge, diesmal in der weiblichen Linie, mit Marcel Chevalier bereits gesichert war.
Der jetzige »Monsieur de Paris«, wie der Henker im Volksmund mit diskretem Schauern genannt wird, hat – meist als Gehilfe – achtzehn Mal gerichtet, zuletzt 1977, als er den wegen Marterung und Strangulierung eines Mädchens verurteilten tunesischen Zuhälter Hamida Djandoubi ins Jenseits beförderte. Er würde es wieder tun, denn Chevalier ist, was nicht überrascht, Anhänger der Todesstrafe: »Solange es Mörder gibt!« In einem Interview trat er sogar dafür ein, die Hinrichtungen der größeren Abschreckung wegen wieder öffentlich vorzunehmen. Dies ist in Frankreich zuletzt 1939 geschehen, als man in Versailles einen Mörder deutscher Herkunft auf das Brett schnallte.
Insgesamt dreizehn Mal in hundertneunzig Jahren haben sich Pariser Parlamente geweigert, den Henker abzuschaffen. Wäre die Konstituante von 1791 diesen Weg gegangen, so hätte sich Frankreich zum Pionier der Humanisierung des Strafrechts gemacht. Doch erst 1981 wurde die Fünfte Republik das letzte Land Westeuropas, das die Todesstrafe aus dem Repertoire seiner Justiz strich. Victor Hugo nannte die Todesstrafe 1848 »das besondere und ewige Zeichen der Barbarei«. Der Sozialistenführer Jaurès befand 1908, sie stehe »im Widerspruch zum Geist des Christentums und zum Geist der Revolution«. Aber immer obsiegte jene Mehrheit, die Marcel Chevalier dessen Monatsgehalt von dreitausendsechshundertfünfzig Franc und vierzig Centimes bezahlte.
Selten war die Diskrepanz zwischen der Haltung der politischen Mandatsträger und der Stimmung in der Bevölkerung so groß. Eine Meinungsumfrage, die das seriöse Institut Sofres im Auftrag des konservativen Figaro vornahm, ergab, dass zweiundsechzig Prozent aller Franzosen nach wie vor für die Todesstrafe sind. Zur Ahndung besonders grausamer Verbrechen wollten sogar dreiundsiebzig Prozent die Guillotine wieder einführen. Die Anhänger der Todesstrafe finden sich in allen Parteien. Sogar die Wähler der Sozialisten erklären sich zu neunundfünfzig Prozent dafür. Für die Abschaffung unter allen Umständen und für alle Kategorien von Verbrechen sind nur fünfundzwanzig Prozent.
Ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit, das sich wegen der auffälligen Gewaltkriminalität verbreitet, hat zum Stimmungswandel beigetragen. Zwar bleibt in Frankreich die Zahl der Tötungsdelikte mit etwa fünfhundert im Jahr konstant, aber es ist nicht mehr so sehr der betrogene Liebhaber, der zur Pistole greift, sondern eher der skrupellose Geiselnehmer oder die Banden der Kassenräuber. Der Volkszorn stieg besonders, als mehrere Mörder nach Verbüßung ihrer Strafe rückfällig wurden. Im südfranzösischen Albi stand wegen Sexualmords ein Mann vor Gericht, der bereits 1953 wegen eines gleichartigen Verbrechens lebenslänglich bekommen hatte und nach zwanzig Jahren begnadigt worden war. Ein anderer einschlägig Vorbestrafter erschoss nach sechzehn Jahren Haft zunächst bei einem Raub drei Kassiererinnen eines Supermarkts und dann aus Rache eine dreiköpfige Familie in einem einsamen Landhaus.
Von alters her besaßen Scharfrichter in Frankreich zwei Privilegien. Sie konnten nach Kenntnisnahme der Akten die Hinrichtung eines Verurteilten verweigern und durften ihren Nachfolger bestimmen. Marcel Chevalier hat niemanden mehr ernannt.
Noch Plätze frei
Streiflicht
Nirgends weht der Atem der Geschichte so fühlbar wie in der stillen Gruft, obwohl sich dort im platten physikalischen Sinn kein Lufthauch regt. Nichts macht sich im Fernsehen so gut wie eine politisch
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