Lesereise Paris
umgerechnet fünfzehn Millionen Euro ausgegeben, um das Viertel zu sanieren. Neue Läden, ein bistrot , Sportplätze und Rasen entstanden, tausendfünfhundert Wohnungen wurden renoviert. Der Präfekt sorgte dafür, dass der Supermarkt wieder öffnete. Gerade eine Woche vor den Krawallen hatte man eine fünfzig Meter hohe künstliche Kletterwand eingeweiht, die höchste Europas, an der Bergsteiger aus Savoyen junge Sportler unterrichten sollten.
Auch das Val-Fourré ist kein Tal des Jammers. Neben hundertzehn Wohnbauten gibt es Schulen, eine Klinik, eine Post, ein Altersheim, einen Theatersaal, eine Eisbahn und ein Stadion von sechs Hektar Fläche. Der sozialistische Bürgermeister hat ein großes Renovierungsprogramm eingeleitet. Die Hälfte der Wohnungen wurde erneuert, Fassaden wurden frisch gestrichen. Eine Moschee ist im Bau.
Der »Clos-Torreaux« in Saint-Denis, »funkelnagelneu und von schöner Architektur«, erinnerte einen Reporter von Le Monde von außen an die Londoner Docklands. »Doch wie es drinnen aussieht, schildert ein Sozialarbeiter. Sie haben schon alles kaputt gemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Das ärztliche Ambulatorium, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt werden, haben sie demoliert, nur um einen Computer und einen Fotoapparat zu stehlen. Sie erkennen keinerlei Regeln an. Sie schlagen die Praxisräume von Ärzten und Zahnärzten kaputt, die Schulen. Wenn man ihnen einen Fußballplatz herrichtet, sägen sie die Torpfosten ab. Was soll man anfangen? Man hat den Eindruck, dass sie ihre ›Zone‹ erhalten möchten.«
Im Dschungel der Vorstädte kämpfen nicht Franzosen gegen Zuwanderer, Polizisten gegen Kriminelle, Zukurzgekommene gegen Reiche. Der Frontverlauf ist komplizierter. Banden von Arabern und Afrikanern prügeln sich. Schwarze »Zulu-Gangs« tragen Rivalitäten aus. Weiße Skinheads terrorisieren Farbige, sind aber dabei, wenn geplündert wird. Sogenannte »rote Skinheads« stellen sich trotz ihrer Hautfarbe auf die Seite der Einwanderer. Junge Nordafrikaner faseln von »Intifada«. Sie wollen in der Auflehnung der Palästinenser gegen Israeli und in ihren eigenen Straßenschlachten Schauplätze desselben Kampfes der unterdrückten arabischen Massen gegen die westliche Welt sehen. Islamische Fundamentalisten suchen ihn in der laizistischen Republik Frankreich auszuweiten. Der Streit um die Rechtmäßigkeit islamischer Kopftücher an öffentlichen Schulen hat wie ein Schlaglicht das Sonderdasein der Zonen erleuchtet.
»Wundert euch nicht, wenn die Gewalt Tag für Tag weiter um sich greift«, singt eine Rockgruppe von Arabern und Schwarzen. »Die Welt von morgen ist unser. Wir halten die Macht in Händen. Ich bin bereit zum neuen Bürgerkrieg. Wir sprengen alles in die Luft. Wer hasst, in dessen Adern fließt Gewalt!« Eine der ersten und bekanntesten Beur -Gruppen nannte sich »Carte de séjour« – Aufenthaltsgenehmigung. Andere Sänger gaben ihrer Band den programmatisch-obszönen Namen »Nique ta mère«. In einem eher hilflosen Versuch, die rebellischen Ausdrucksformen der Vorstädte zu integrieren, lud der damalige Kulturminister die Gruppe zu sich ein und versprach Zuschüsse. Rapmusik und das Besprühen von Wänden werden von Medien, Kulturpolitikern und Honoratioren bis hin zum Staatschef zu missglückten Versuchen eingespannt, Brücken zu den Parias zu bauen.
Alljährlich verlassen in Frankreich siebenhunderttausend junge Leute die Schulen. Neun Monate später haben nur vierhunderttausend von ihnen eine Arbeitsstelle, aber in dieser Ziffer sind auch vom Staat subventionierte vorläufige Ausbildungsplätze enthalten. Mit der Krise verschlechtert sich die Lage, und unter den Ausländern in den Vorstädten ist die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch. Doch im Gegensatz zur öffentlich proklamierten Hilfsbereitschaft der Regierung sinkt bei den Fachleuten die Bereitschaft, die jungen Arbeitslosen nur als Opfer zu sehen.
In einer mehrteiligen Untersuchung über die Ursachen ließ Le Monde Experten der zahlreichen staatlichen Stellen für Soziologie, Fortbildung und Berufsberatung sowie betroffene Jugendliche zu Wort kommen. Von »einer hedonistischen Generation, die vor allem findet, dass das Leben zu kurz ist, um auf traurige Weise zu arbeiten«, spricht ein Soziologe. »Wenn man nichts tut«, erzählt ein Einundzwanzigjähriger, »langweilt man sich am Anfang ein bisschen, aber allmählich findet man daran Geschmack.« Er selber
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