Lesereise Paris
später schrieb – die Sowjetunion stand immer noch – hatte ich am Ende selber den Eindruck, dass die guten Seiten dank der unvermeidlichen Aktualität wieder einmal zu kurz gekommen waren. Also bemerkte ich im Vorwort: »Man kann in Moskau glücklich sein und auf Hawaii unglücklich, oder umgekehrt.«
Wenn ich heute an meinen Arbeitsplatz Paris aufbreche, verabschieden mich Freunde – zum Glück noch immer weitgehend dieselben – mit wehmütig-wohlwollendem Neid, als zöge ich in den Vorhof eines Paradieses von Amüsement, Eleganz und raffiniertem Lebensgenuss. Auch in Paris kann man glücklich oder unglücklich sein, wie überall und irgendwo. Vielleicht gibt es zu anderen großen Städten einen feinen Unterschied. Wer Talent zu Glück und Erfolg hat, findet auch im veränderten Paris mit der Vielfalt seiner Lebensmöglichkeiten bessere Voraussetzungen zur Entfaltung.
Wenn die Seele in die Lifte springt
Der Turm, der wie sein eigenes Souvenir aussieht
Heute sind wir wieder dreiundzwanzigtausend. Manche von uns haben sich schon früh am Morgen angestellt, bevor geöffnet wird, um das Visum zu erhalten. Das Visum für den dritten Stock kostet dreizehn Euro, sieht aus wie eine Spielkarte und trägt – der Leser wird es schon erraten haben – ein buntes Bild des Eiffelturms. Den Inhaber berechtigt es nach einer ersten Auffahrt bis zu hundertfünfzehn Metern über Grund zunächst dazu, abermals Schlange für den Lift von der zweiten zur dritten Etage zu stehen. »Mehr als eine halbe Stunde Wartezeit auf der zweiten Plattform«, warnt diskret, und absichtlich vage, eine Tafel an den Schaltern zu Füßen des Turmes. Der Normaltourist hat diese erste Schwelle während der Hochsaison mit Glück nach einer Stunde erreicht. Da hält ihn, dreihundert Meter unter dem Gipfel, so leicht nichts mehr zurück.
Wer sich fühlen möchte wie Dr. Livingstone bei der Erforschung des inneren Afrika oder wie Charles Lindbergh auf seinem Atlantikflug muss hier nicht herkommen. Mehr als zweihundert Millionen waren vor ihm da, seit der Turm am 6. Mai 1889 zur Pariser Weltausstellung eröffnet wurde. Dennoch hat der Eiffelturm nichts von seiner Faszination verloren. Das höchste Bauwerk der Erde ist er längst nicht mehr; das Empire State Building in New York hat ihm diesen Rang vor mehr als achtzig Jahren abgelaufen. Dass er ein technisches Meisterwerk ist, daran allein kann es auch nicht liegen; er ist so leicht konstruiert, dass sich ein verkleinertes Modell im Maßstab 1 : 100 nicht herstellen lässt. Sein Gewicht auf der Erde ist pro Quadratzentimeter Auflagefläche nicht größer als das eines besetzten Stuhls. Aber wie viele unter den Dreiundzwanzigtausend wollen das wissen?
Ästhetisch war der Turm von Anfang an umstritten. Guy de Maupassant und Charles Gounod protestierten zusammen mit anderen Künstlern gegen den Bau des »abscheulichen Skeletts«, des »Fabrikschlots«, der »Eisenmatte«. Schon im Eröffnungsjahr freilich ließ sich der lebensfrohe Schriftsteller zu Festessen in die Restaurants des Turmes einladen, »weil sie der einzige Platz in Paris sind, wo man ihn nicht sieht«, während der Komponist bis vier Uhr früh für Gustave Eiffel auf dem Klavier improvisierte. Mit den ägyptischen Pyramiden, den Niagarafällen und der Chinesischen Mauer hat der Eiffelturm gemeinsam, dass sie alle ziemlich genauso aussehen, wie man sie sich vorstellt. Überraschungen gibt es nicht. Das macht den Reiz des Gewohnten aus: Eiffel, der Zuverlässige.
Es ist Montag. Das Schloss von Versailles und das Musée d’Orsay haben Ruhetag. Aber der Eiffelturm ist geöffnet. Veranstalter richten ihr Paris-Programm darauf ein. »Den Eiffelturm wollen alle sehen«, sagt ein Reiseleiter, der seine Gruppe aus einem Bus mit Krefelder Nummer steigen lässt. Sehen kann man ihn, wie schon Maupassant bemerkte, beinahe von überall in Paris. Wenn der Autor am Morgen die Fensterläden öffnet, ist Tag für Tag das Erste, worauf sein Blick fällt, der Turm: riesengroß, je nach Wetter braungrau, schwarz, silbrig im Dunst, manchmal mit der Spitze in den Wolken. Abends beim letzten Blick über die viel besungenen Dächer von Paris ist der Eiffelturm meistens noch beleuchtet. Zur Weltausstellung taten es zehntausend Gaslampen, später Scheinwerfer von außen. Zuletzt wurden sie durch Natriumstrahler ersetzt, die hübsch und energiesparend im Inneren des Gerippes leuchten. Der goldene Eiffelturm am Abendhimmel sieht seither aus wie sein eigenes
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