Lesereise Prag
waren schon 1938 nach dem Münchner Abkommen als »Reichsgau Sudetenland« dem Deutschen Reich angegliedert worden. Die bald einsetzende Verfolgung der Juden machte sich in Hetztiraden und stetig schmerzlicheren Schikanen bemerkbar. Auch Kinder mussten Judensterne tragen, mussten die Schule verlassen und durften den Wenzelsplatz nicht mehr betreten.
Pavel Oliva war gerade achtzehn geworden, als er im Dezember 1941 ins Konzentrationslager Theresienstadt kam, Tomáš Kosta war siebzehn, als es ihn 1942 traf. Beide durchliefen unabhängig voneinander jene Stationen des Grauens, die Millionen Juden das Leben kosteten. Pavel Oliva überlebte nach Theresienstadt das Konzentrationslager Auschwitz und das KZ -Außenlager Schwarzheide nördlich von Dresden. Was der Alltag an diesen Orten war, hat sein Mithäftling Alfred Kantor, ein junger Grafiker, schon gleich nach der Befreiung 1945 im bayerischen Deggendorf atemlos aufgezeichnet. Oliva gab das Buch vor zwei Jahren in Tschechien heraus. Er erzählt recht gelassen davon beim Gespräch im Café Slavia. Der heikelste Augenblick kommt für ihn, als er vom Schicksal seiner Verwandtschaft berichtet. Vater, Mutter, Bruder, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen – allesamt wurden sie, wie er nach seiner Befreiung erfuhr, von den Nazis ermordet, »insgesamt waren das etwas über hundert Leute«.
Tomáš Kosta war in Theresienstadt, Auschwitz und dem KZ -Außenkommando Meuselwitz in Thüringen. Im KZ schloss er sich einer Untergrundgruppe von Kommunisten an, mit deren Hilfe er sich in äußerster Entschlossenheit retten konnte. Seine Mutter und sein Bruder Jiří überlebten ebenfalls, der Vater war im Exil. Für die Familie kam eine zweite Zeit harter Unterdrückung in den fünfziger Jahren, als die seit 1935 geschiedenen Eltern vom nunmehr kommunistischen Regime im Umfeld der antisemitisch eingefärbten Slánský-Prozesse inhaftiert wurden, Bruder Jiří verlor seine Arbeit. Tomáš Kosta verharrte gleichwohl bis zum Prager Frühling als Mitglied in der KP , der er wie Pavel Oliva und mancher andere nach dem Krieg in der Überzeugung beigetreten war, sie als Einzige könnte eine Wiederholung des Nazigrauens verhindern.
Nach der Invasion der Sowjets 1968, die er als Verlagschef erlebte, emigrierte Tomáš Kosta indes nach Deutschland, wo er bis heute seinen Hauptwohnsitz hat. Er wurde Sozialdemokrat, leitete den gewerkschaftseigenen Bund-Verlag und die Europäische Verlagsanstalt, gab mit Günter Grass und Heinrich Böll die Literaturzeitschrift L ’80 heraus und beriet die deutsche SPD -Führung ebenso wie nach 1989 drei sozialdemokratische Ministerpräsidenten in Prag in Fragen der deutsch-tschechischen Zusammenarbeit. Heute dient der Honorarprofessor dem Außenminister Karel Schwarzenberg als Ratgeber und ist deshalb regelmäßig in Prag.
»Die Tschechen und Deutschen gehören kulturell zusammen«, sagt er am Wohnzimmertisch in seiner Wohnung und zieht an der Pfeife. Er möchte darüber vor allem mit den jungen Tschechen sprechen, ihnen bewusst machen, was damals im alten Prag »kaputt gegangen ist«: für ihn war es »à la longue genauso ein Eingriff wie Auschwitz«. Zu diskutieren wäre da nach seiner Meinung neben den Nazigräueln auch die nach 1945 erfolgte Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, »alles, alles, das gehört ja zusammen«.
Und dabei wünscht er sich, dass die jungen Tschechen bald ihre Eltern und Großeltern in ähnlicher Weise nach dem Kommunismus und der Nazizeit befragen, wie dies junge Westdeutsche nach 1968 in ihren Familien taten. Und Kosta freut sich, dass junge Historiker die Arbeit schon aufgenommen haben. Nur hält er es generell für »eine unehrliche Betrachtungsweise«, dass sich die meisten Tschechen »damals wie heute« immer nur als Opfer sehen.
Pavel Oliva kommt am Kaffeehaustisch auf eine andere Spur des damaligen Geschehens, die in die Gegenwart führt. Den Deutschen gegenüber ist er keineswegs reserviert. Oft hat er als international anerkannter Historiker und Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Deutschland Vorträge gehalten und mit deutschen Kollegen kooperiert. Seine Tochter ist Germanistin und Übersetzerin, der Sohn lebte in der Bundesrepublik im Exil, eine Enkelin spricht fließend Deutsch.
Aber es bleibt doch dieses Misstrauen, das der ihm und seiner Frau auch persönlich gut bekannte Staatspräsident Václav Klaus als oberster aller tschechischen Euro-Skeptiker immer wieder artikuliert. »Ich teile
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