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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Brill
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nicht alle seine Ansichten, aber etwas ist dran«, sagt Professor Oliva. »Die Tschechen haben Angst, dass sie wieder ein Protektorat eines großdeutschen Reiches sein werden.« Ihn freut es, dass die Deutschen in die EU fest eingebunden sind, »sonst könnte es passieren, dass sie wieder mit Waffen an der Grenze stehen«, wie er sagt. »Die kleinen Nationen haben Angst, nicht nur die Tschechen, ich glaube, es sind auch die Belgier, die Holländer, die Portugiesen.« Und nicht nur vor den Deutschen, sondern auch vor den Franzosen. Auch das gehört zum Vermächtnis des alten, verlorenen Prag.
    Vor Hitlers Einmarsch am 15. März 1939 lebten in Prag etwa vierzigtausend Juden, nur knapp achttausend überlebten die Nazizeit. Von ihnen emigrierten die meisten später nach Israel, dafür zogen slowakische Juden aus der Karpato-Ukraine und Ungarn zu. 1989, nach dem Fall des Kommunismus, der alle Religionsgemeinschaften unterdrückt hatte, zählte die jüdische Gemeinde in Prag noch vierhundert Mitglieder, heute sind es – in einer Stadt von 1,2 Millionen Einwohnern – wieder sechzehnhundert.
    Ebenso groß oder größer dürfte die Zahl derjenigen sein, die sich von der Synagoge fernhalten oder sich nicht mehr als Juden betrachten, auch wenn sie jüdische Vorfahren haben. »Es gibt viele Leute, die jüdische Wurzeln haben, aber es ist sehr schwierig, die genaue Zahl zu ermitteln«, sagt František Bányai, der Präsident der jüdischen Gemeinde. Nur wenige der sechzehnhundert Mitglieder gehören zu den alten Prager Juden, die noch als Kinder die Zeit vor 1939 erlebt haben. Weiß man überhaupt noch von damals? »Ich glaube, die Erinnerung existiert noch«, sagt Bányai.
    Auch der deutsche Staat erinnert sich. Am 16. März 2009 erhielten in Prag aus der Hand des deutschen Botschafters Helmut Elfenkämper zwei alte Prager Juden, auch sie Überlebende des Holocaust, das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse für ihre Verdienste um den deutsch-tschechischen Dialog: Oldřich Stránský, vormals Vorsitzender des Rates der tschechischen NS -Opferverbände, und Professor Felix Kolmer, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees.
    Vor über vierzig Jahren, kurz nach der Invasion von 1968, hat Professor Pavel Oliva bei einer Tagung in Zürich einmal den Altprager Dichter Johannes Urzidil, einen Zeitgenossen und Kollegen Kafkas, getroffen, der damals schon ewig im Exil lebte: »Er hat über Prag gesprochen wie über eine verlorene Geliebte.« Tomáš Kosta spricht über Prag, das alte Prag von damals, heute so: »Deutsch ist meine Vatersprache, und Tschechisch ist meine Muttersprache.«
    Im April 2009 feierte Tomáš Kosta seinen vierundachtzigsten Geburtstag. Er sprach an diesem Tag in Sachsenhausen zum vierundsechzigsten Jahrestag der Befreiung dieses Konzentrationslagers. Vierundsechzig Jahre zuvor, an seinem zwanzigsten Geburtstag, hatte er sich noch auf dem Todesmarsch befunden und erfahren, dass Hitler tot war.

Zweiundachtzig Kinder, überlebensgroß
Wie die Gedenkstätte in Lidice auf das Massaker der Nazis im Jahr 1942 aufmerksam macht
    Es sollte eine Provokation sein, gewiss doch. Ein starker Reiz, um junge Leute zu erreichen, die an Kriegsspiele gewöhnt sind. »Die Jugend ist ziemlich gefühllos, und deshalb sollte sie ein bisschen schockiert werden«, sagt Milouš Červencl. Unter der Web-Adresse totalburnout.cz war im Herbst 2006 ein martialisches Szenario zu finden, das den Internetspieler vor die Wahl zwischen Flammenwerfer und Handgranate stellte, »um so schnell wie möglich Lidice niederzubrennen«. Jäh wurde dann der digitale Vernichtungsfeldzug unterbrochen durch den Hinweis: »Was spielst du hier eigentlich? In Lidice war es kein Spiel, sondern Wirklichkeit.«
    Lidice – der Name wäre vielen Älteren sicher ein Alarmsignal gewesen. Aber was wissen junge Tschechen und andere junge Europäer heute noch von dem Nazimassaker, mit dem für alle Zeiten der Name dieses Dorfes verbunden ist? »Die jungen Leute müssen unsere jüngere Geschichte kennen, sie müssen in der Familie darüber aufgeklärt werden, aber leider erfahren sie davon gegenwärtig auch in der Schule nicht viel«, sagt Milouš Červencl.
    Der Fünfundfünfzigjährige ist Direktor der Gedenkstätte von Lidice, Aufmerksamkeit für die NS -Zeit ist ihm also ein zentrales Anliegen. Lidice war nämlich nach dem Kollaps des Kommunismus 1989 in Tschechien ein wenig in Vergessenheit geraten. Erst in jüngerer Zeit gelang es, mit neuen Medien und

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