Lesereise Prag
attraktivsten Prager Touristenzielen. Hunderttausende aus aller Welt lauschen Jahr um Jahr in der Josefstadt, dem einstigen Ghetto, den Erzählungen der Fremdenführer über den Rabbi Löw, den Golem und den Bürgermeister Maisel, den Bankier des Kaisers. Prag war damals eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas.
Die Lage wandelte sich im späten 19. Jahrhundert, als zwischen Tschechen und Deutschen, die in Böhmen und Mähren über Jahrhunderte zusammenlebten, der Nationalismus aufflammte. Die Juden, teils den einen, teils den anderen zugehörig, versuchten, »als blinde Passagiere in dem Nationalitätenhader durchzukommen«, wie später der Zionistenführer Theodor Herzl schrieb. Die Volksgruppenzugehörigkeit war für manche Juden eindeutig klar, für andere wandelbar, zumal in jenen Jahren der industriellen Revolution, als viele Tschechen vom Land nach Prag zogen, nicht nur Juden. Oft war der Ortswechsel mit sozialem Aufstieg verbunden, mitunter ging dies einher mit einem Übergang vom Tschechischen zum Deutschen als dominanter Sprache.
Deutsch war ja das Idiom der herrschenden austro-ungarischen Monarchie, die einen supranationalen Schirm darstellte. Franz Kafkas Familie war ein Fall einer solchen Metamorphose. Manchmal fühlten sich in einer Sippe die einen als Tschechen, die anderen als Deutsche und alle als Juden. »Soziologisch gesehen hingen wir alle in der Luft«, schrieb Willy Haas, einer der Schriftsteller des Prager Kreises, der wie Franz Kafka, Franz Werfel, Max Brod oder Egon Erwin Kisch zum deutschsprachigen Prager literarischen Kreis und zu den bekanntesten Prager Juden zählte.
Viele sprachen beide Sprachen, etliche liebten und heirateten in die andere Volksgruppe hinein. Und als sich nach 1920 in der neuen Tschechoslowakischen Republik jeder Bürger bei der Volkszählung als Tscheche, Deutscher oder Jude einstufen sollte, da wusste mancher Jude gar nicht recht, wo er sein Kreuzchen machen sollte. »Ich warne davor, eindeutige Kategorien aufzustellen«, sagt deshalb der Prager Journalist Petr Brod, einer der besten Kenner der Lage, der aus der eigenen Familie die fließenden, schillernden Übergänge kennt.
Viele assimilierte Juden waren keineswegs religiös, so auch der als Tscheche im Prager Stadtteil Žižkov aufgewachsene Pavel Oliva und der dem deutschen Ambiente zugehörige Tomáš Kosta. Mit der Synagoge und der jüdischen Gemeinde traten ihre Familien nur selten in Kontakt. Pavel Oliva erinnert sich, dass für ihn die Bar-Mitzwa, die feierliche Aufnahme in die Gemeinde der Erwachsenen mit dreizehn Jahren, der letzte religiöse Akt war. Mehr als die Thora faszinierten den Sohn eines Hopfenhändlers schon damals die Epen von Homer, die er in klassischem Griechisch zu lesen lernte. Schon damals schlug er den Weg zum Altphilologen ein, und bis heute erzählt er mit ungebrochener Begeisterung davon. In Olivas Familie wurde Tschechisch gesprochen, die Eltern konnten aber auch gut Deutsch und benutzten es, wenn sie den Kindern etwas vorenthalten wollten – was nur eine Zeit lang gut ging, denn auch der Junge lernte Deutsch und beherrscht es bis heute vorzüglich.
Tomáš Kostas Familie sprach Deutsch, nach Hitlers Machtübernahme und Drohgebaren aber nur noch Tschechisch, auch im trauten Kreis. Aus Protest und Prinzip. Der Vater war Gymnasialprofessor und gut vernetzt im linksintellektuellen Milieu, die Mutter entstammte einer Unternehmerfamilie, die Kunstblumen produzierte und ein Geschäft am Wenzelsplatz besaß. Man hatte ein Abonnement in der Deutschen Oper und fuhr mit Großpapa und Chauffeur sonntags im Automobil zum Kaffeetrinken hinaus nach Jíloviště und Dobříš. Die Köchin war Tschechin, das Kindermädchen deutsch. An der Mittelschule und am Gymnasium spielten Religionen und nationale Gegensätze keine Rolle. Tomáš Kosta und Pavel Oliva haben Antisemitismus damals allenfalls in leichten Dosen erlebt, »ab und zu als Scherz«, wie Oliva sagt. Und beide bestätigen jenes Fluidum, das der Literat Max Brod in den schönen Satz fasste: »Es war eine Atmosphäre der Selbstverständlichkeit, die mich umgab.«
Vor über siebzig Jahren, am 15. März 1939, war es damit vorbei. Die Nazis, die tags zuvor in der Slowakei die Ausrufung eines eigenen Staates durch das von ihnen abhängige Regime des katholischen Priesters Jozef Tiso veranlasst hatten, besetzten jetzt die sogenannte »Rest-Tschechei« und errichteten das »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«. Die Randgebiete
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