Lesereise Prag
bekommt, aufzuatmen. Den Kopf heben und einfach aufatmen, das war der Prager Frühling.« Ludvík Vaculík schaut jetzt ernst. Das Café Slavia, in dem er einen Tisch am Fenster ausgesucht hat, ist vom Gewirr der Stimmen und dem Klappern der Tassen erfüllt. Hier trafen sich einst die Prager Literaten, die den jungen Autor eines gesellschaftskritischen Romans in ihren Kreis aufnahmen. Hier wurde politisch diskutiert, viel häufiger und heftiger als heute.
Tschechien durchlebt wie andere postkommunistische Länder seit Jahren eine Phase politischer Lethargie, die auch den Rückblick auf den »Prager Frühling« trübt. Bisher hat man von diesem Thema nicht viel Aufhebens gemacht, den meisten normalen Menschen ist es nach den Worten des früheren Ministerpräsidenten Mirek Topolánek sowieso »total egal«. Erst im Sommer 2008 konnte man den Eindruck gewinnen, das Jahr 1968 habe doch einen Platz im Gedächtnis der Nation. Am 21. August jährte sich zum vierzigsten Mal der Tag, an dem der Versuch eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes beendet wurde. Zu diesem Datum hin gaben die Medien dem Ereignis Raum. Zeitungen brachten Serien, Rundfunk- und Fernsehreporter kramten in den Archiven.
Auch Ludvík Vaculík kam wieder darin vor, wenngleich er in den Tagen der Invasion nicht in Prag, sondern in seinem mährischen Heimatdorf Brumov war. Aber er hatte die Vorgeschichte mitgeprägt. Neben Milan Kundera, Václav Havel und Pavel Kohout hatte er auf dem legendären Schriftstellerkongress im Juni 1967 im Kulturhaus der Eisenbahner in Prag mit harter Kritik am Regime das Fanal zum Aufbruch gesetzt. Und er war der Autor jenes Manifests der zweitausend Worte, das im Juni 1968 einen weiteren Wendepunkt markierte.
Wissenschaftler hatten sich damals an Vaculík gewandt, wie er erzählt, und er sagte ihnen: »Wenn ich das schreibe, schreibe ich das in meiner Sprache.« So kam es, dass diese fundamentale politische Proklamation nicht nur einen poetischen Titel erhielt, sondern auch einen schwungvollen, lesbaren Text. Darin wurde der Niedergang der Nation und des Kommunismus beklagt. Machthungrige Individuen hätten sich hochgeboxt, Wahlen hätten ihren Sinn verloren, »wir können kaum noch einander trauen«. Vaculík sah einen »Augenblick der Hoffnung« und rief die Menschen auf, Rechenschaft von ihren Fabriksdirektoren zu verlangen, Versager abzusetzen, auf örtlicher Ebene aktiv zu werden. Streit zwischen Nachbarn sollte enden, und zur Möglichkeit einer Intervention »fremder Kräfte« hieß es: »Wir können unserer Regierung zeigen, dass wir auf ihrer Seite stehen, notfalls mit Waffen in der Hand.« Ein klares Bekenntnis also zu den Reformern der Kommunistischen Partei und zum umjubelten Parteichef Alexander Dubček.
Diese zweitausend Worte, am 27. Juni in vier Zeitungen veröffentlicht und von achtundsechzig Intellektuellen unterzeichnet, brachten aus Moskauer Sicht angeblich das Fass zum Überlaufen. Schon das »Aktionsprogramm« der tschechoslowakischen KP , das die Aufhebung der Zensur, erweiterte Reisemöglichkeiten und liberale Wirtschaftsreformen vorsah, hatte zuvor die Hardliner erregt. Jetzt sprach Parteichef Leonid Breschnew in Moskau von »Konterrevolution«, der militärische Eingriff wurde beschlossen.
Allerdings war die Invasion schon seit März geplant worden, wie man heute aus Archivstudien weiß, und Ludvík Vaculík ist fest überzeugt: »Das war ein Vorwand. Die wären sowieso gekommen.« Er ist deshalb nach eigenen Worten heute weder traurig noch enttäuscht noch hat ihn je das Gewissen geplagt, dass er da einen Fehler gemacht haben könnte. »Nein, ich denke, es war das einzig Richtige. Einmal im Leben eines Menschen und manchmal auch eines Volkes kommt die Gelegenheit, wo man etwas tun kann.«
Andere dachten ebenso. In Prag strömten noch in der Nacht der Invasion Hunderttausende auf die Straßen, um den Panzersoldaten aus der Sowjetunion, Polen, Ungarn und Bulgarien ihre Wut und Verzweiflung zu demonstrieren. Die Fotos, auf denen der dreißigjährige Josef Koudelka die Stimmung jener heißen Tage im August eingefangen hat, wurden 2008 in Prag in einer Ausstellung gezeigt. Ein Buch dazu wurde in neun Sprachen herausgegeben, in Russland allerdings konnte der Band nicht erscheinen.
Er enthält auch einen lebendigen Essay der Historiker Jiří Hoppe, Jiří Suk und Jaroslav Cuhra, die die bisher vorherrschende Sicht auf die Ereignisse gegen
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