Lesereise Prag
Methoden wieder mehr Besucher anzuziehen. Auch das von einer Werbeagentur erdachte Computerspiel erfüllte, wenngleich es nach heftigen Protesten aus dem neuen Ort Lidice mit einer Entschuldigung zurückgezogen wurde, seinen Zweck: Über hunderttausend Menschen aus aller Welt klickten sich ein, die Zahl der Besucher am Mahnmal erreichte im September 2006 den Rekordwert von fast siebentausend, darunter viele Schulklassen, ja ganze Schulen. In früheren Monaten waren es im Schnitt nur zweitausendsiebenhundert oder weniger.
Wer die Gedenkstätte zwanzig Kilometer nordwestlich von Prag aufsucht, trifft in der grünen Stille eines gepflegten Wiesentals auf Trauerweiden, Mauerreste, künstliche Bodenumrisse einer Schule und einer Kirche. Magnetisch zieht es die Gäste zu einer Bronzeskulptur: Zweiundachtzig Kinder stehen da, überlebensgroß, erschrocken, stumm. Im Museum gibt es eine höchst informative, gleichzeitig emotionsanregende Film- und Bilderschau. Ebenso wie zwei Bücher neueren Datums breitet sie anschaulich das Schicksal des Dorfes aus, dessen Bewohner bis zum Tag des Untergangs Kindstaufen, Kirchweih oder Hochzeit feierten wie andere auch.
Am 27. Mai 1942 indes verübten Fallschirmspringer der tschechoslowakischen Exilarmee in Prag ein Attentat auf den Ober-Nazi Reinhard Heydrich, den »stellvertretenden Reichsprotektor« im besetzten Böhmen und Mähren, der bald starb. Die Ermittlungen der NS -Behörden und der tschechischen Gendarmerie führten durch einen unglücklichen Zufall nach Lidice, wo man irrtümlicherweise einen Hort des Widerstands vermutete. Auf Anordnung Hitlers wurde das Dorf am 9. Juni 1942 abgeriegelt, die Männer wurden tags darauf erschossen, hundertzweiundneunzig im Ganzen, alle übrigen Personen deportiert; sechzig Frauen und achtundachtzig Kinder kamen später ebenfalls um, die meisten Kinder wurden im NS -Vernichtungslager Chelmno in Polen vergast. Hundertdreiundvierzig weitere Frauen und siebzehn Kinder überlebten. Das Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht, noch die Trümmer sprengte man. Lidice wurde wie das französische Dorf Oradour zu einem Synonym der Nazibarbarei.
Nach dem Krieg nutzten die Kommunisten das Schicksal des Ortes so ausgiebig für ihre Propaganda, dass die Wende von 1989 jedes Interesse und ebenso die staatliche Finanzförderung versiegen ließ. Erst im Jahr 2000 besann sich das Kulturministerium in Prag eines anderen. Militärhistoriker trugen Augenzeugenberichte und alte Fotos zusammen, ein 1955 angelegter Rosengarten wurde neu belebt, und seit dem Sommer 2006 wird die Dauerausstellung in neuer Form präsentiert. In einem kargen Betonraum führen Projektoren nun die einstigen Schulklassen, Kneipengesellschaften und Familienclans ebenso vor Augen wie die Fackelzüge der Nazis.
Ein Weiteres tun internationale Mal- und Wissenswettbewerbe für Kinder sowie Seminare für Lehrer. Und seit im Juli 2005 ein junges Paar aus dem benachbarten Städtchen Kladno in der Gedenkstätte erstmals die Ehe besiegelte, ist nach den Worten des Direktors Milouš Červencl am Ort des Grauens »eine neue Tradition begründet« – Pietät soll nicht nur Trauer bedeuten. Viele weitere Male ist in Lidice inzwischen geheiratet worden, viele weitere Male wurde im Rosengarten ein Rosenstock gepflanzt. Lidice wirbt für sich auch auf die sanfte Tour.
Den Kopf heben und aufatmen
Wie Prager Intellektuelle heute mit dem »Prager Frühling« umgehen
Dass Ludvík Vaculík den »Prager Frühling« gleich zu Beginn unserer kleinen Kaffeehausplauderei als abgelutschtes, langweiliges Thema einstuft, braucht niemanden zu schrecken. Er liebt es zu scherzen. »Ich habe zum Glück fast alles vergessen«, fügt er trocken hinzu. Und wenn schon. Was der zweiundachtzigjährige Autor Vaculík zum »Prager Frühling« zu sagen hatte, ist ja zum Teil schon in die Geschichtsbücher eingegangen. Denn er war damals, vor über vierzig Jahren, nicht nur ein Zeitgenosse, der alles miterlebt hat: den Aufbruch, die Begeisterung, die Konfrontation und die Erniedrigung. Zweimal griff er mit der Macht des Wortes ins Geschehen ein, zweimal wurde er dafür aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen, und zwei Jahrzehnte hat er mit Publikationsverbot gebüßt.
Fragt man ihn heute, was nach zwei weiteren, sehr turbulenten Jahrzehnten als Haupteindruck von jenen aufgewühlten Monaten des Jahres 1968 übrig bleibt, dann sagt er: »Es war, wie wenn ein Mensch, der unter Wasser gedrückt wird, einmal die Möglichkeit
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