Lesereise Prag
intellektuellen Milieu. Jener deutschsprachige »Prager Kreis« von Literaten, der sich zu Kafkas Zeiten zusammenfand und viele Juden zu seinen Mitgliedern zählte, war offen für das tschechische Ambiente. Etliche Akteure, unter ihnen Kafka, sprachen leidlich bis fließend Tschechisch, und sie hatten schnelle Liebschaften mit tschechischen Dienstmädchen und Verkäuferinnen. Johannes Urzidil hielt gar Kontakt zu bekannten tschechischen Kollegen wie Karel Čapek oder Jaroslav Hašek.
Auch der umtriebige Gesellschaftslöwe Max Brod wirkte in beiden Welten. Nicht nur rettete er das Werk des Freundes Kafka, dessen eigene Verfügung missachtend, vor dem Vergessen; nicht nur bahnte er dem mitreißenden Franz Werfel den Weg zum Erfolg; auch der tschechische Komponist Leoš Janáček reüssierte erst, als Brod seine Opern-Libretti übersetzte, und auch der brave Soldat Švejk des Jaroslav Hašek erfreute sich des Anschubs durch Brod, ehe ihm der Weltruhm zufiel.
Brods Schlüsselrolle ist eine der Erklärungen dafür, warum gerade Prag im expressionistischen Jahrzehnt 1910–1920 so viele Talente zur Geltung brachte. Man hat gar den Vergleich mit dem Weimar der Goethezeit gezogen, das freilich seinen Glanz den Zuwanderern verdankte. In Prag indes formte sich aus Eigenem in den Zirkeln des Café Arco oder des Café Louvre ein literarisches Biotop, so fruchtbar, dass aus Wien Karl Kraus herübergiftete: »Die Lyriker vermehren sich wie die Bisamratten.«
Es waren die Nazis, die nach ihrem Einmarsch 1939 und mit der Verfolgung der Juden der Prager deutschen Literatur ihren Platz raubten. Nach 1945 folgte die Vertreibung der deutschsprachigen Bewohner durch die Tschechen, nach 1948 verhängten die Kommunisten ihren Bann. Alles Deutsche war nun verpönt, Franz Kafka galt als bürgerlich-dekadent, nur in den sechziger Jahren war seinem Andenken nach einer Konferenz auf Schloss Liblice eine kurze Blüte beschieden, die mit der Niederschlagung des »Prager Frühlings« 1968 endete.
Erst das Jahr 1989 brachte die Wende, auch in dieser Hinsicht. 1990 gründete sich die Franz-Kafka-Gesellschaft und begann, Konferenzen zu organisieren. Sie publizierte die 2007 mit dem dreizehnten Band abgeschlossene Kafka-Gesamtausgabe auf Tschechisch und edierte auch in zwanzig Bänden das Opus des tschechischen Humoristen Karel Poláček, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Dass Prag heute einen internationalen Franz-Kafka-Preis und einen Max-Brod-Preis hat und dass man beim Wandern durch das frühere jüdische Viertel dem großen Kafka wenigstens in Gestalt eines Denkmals begegnet, geht ebenfalls auf die Initiative der Gesellschaft zurück.
Unweit dieses Denkmals gibt es im alten Waschhaus eines Hinterhofs auch das von der Gesellschaft unterhaltene Franz-Kafka-Zentrum, »ein offenes Haus« mit Buchladen und Bibliothek, wie die Direktorin Markéta Mališová sagt. Ihre exquisiten Prunkstücke sind eine Replik von Kafkas Schreibtisch sowie Kafkas Handbibliothek, auch diese nicht original, sondern nach Kafkas Bücherliste von dem Stuttgarter Antiquar Herbert Blank in alten Ausgaben noch einmal zusammengetragen.
Professor Kurt Krolop, der heutige Vorsitzende der Kafka-Gesellschaft, gehörte schon um 1960 zu einer Gruppe um den Prager Germanisten Eduard Goldstücker, die Kafka & Co. nach Prag zurückbringen wollten. Ebenso der Rundfunkjournalist František Černý, auch Lenka Reinerová stieß dazu. Sie mussten warten bis zur Wende. Černý wurde 1997 tschechischer Botschafter in Bonn und Berlin, 2004 gründete er mit Krolop und Reinerová zusammen einen Stiftungsfonds. In schwesterlicher Zusammenarbeit mit der Franz-Kafka-Gesellschaft verfolgt diese Initiative nun den Plan, in Prag ein Literaturhaus deutschsprachiger Autoren zu eröffnen: der eigenen Prager und tschechischen deutschsprachigen Autoren wohlgemerkt.
Schritt für Schritt nähert man sich dem Ziel nach der Methode: Wir fangen schon mal an. Man organisierte Lesungen und Diskussionen, bei denen es weniger um Kafka ging als um dessen unbekanntere Kollegen, beispielsweise Paul Leppin und Leo Perutz. Und bewusst werden auch heutige Autoren einbezogen, die als Tschechen auf Deutsch schreiben – neben Lenka Reinerová etwa Jiří Gruša, der Präsident des Internationalen P.E.N.-Clubs, und die 1998 in Berlin verstorbene Libuše Moníková. Auch ein Literaturstipendium wurde begründet, als erster Resident weilte Peter Härtling in Prag. Und Lucie Černohousová, die Geschäftsführerin der
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