Lesereise Schottland
Abstand von sechs Fuß, also knapp zwei Metern, in beiden Richtungen Markierungen angebracht. Gelingt es einer Mannschaft, das Seil samt Gegnern sechs Fuß zu sich herüberzuziehen, hat sie gewonnen. Doch das kann dauern. Die Teams aus East Lothian und Kinloch liegen einander lauernd gegenüber, eine ganze Weile passiert gar nichts. Einmal soll mehr als eine Dreiviertelstunde vergangen sein, bis der Wettkampf vorbei war. Die Zuschauer feuern die wie Perlen an einer Kette aufgereihten, regungslos verharrenden Athleten an. Die Trainer beobachten die gegnerische Mannschaft mit Argusaugen. Plötzlich gibt einer das Kommando, das Team aus East Lothian zieht aus Leibeskräften, die Männer aus Kinloch stemmen sich verzweifelt dagegen und wehren den Angriff ab. Dem zweiten Angriff zehn Minuten später halten sie aber nicht mehr stand, sie lassen das Seil los, ihr »Anker«, der daran festgebunden ist, rutscht bäuchlings über die Wiese.
Zu dieser Zeit ist Stephen King mit seinen fünfzehn Pfund Preisgeld und einem kleinen Blechpokal längst unterwegs nach Forfar, wo morgen die nächsten Highland Games stattfinden.
Das ist in Possil völlig normal
»Welcome to Queen Street!« Das Schild gilt nicht für Ian. Ein Bahnangestellter versucht, den Fünfzehnjährigen vom Seiteneingang des Bahnhofs Queen Street, einem der beiden Fernbahnhöfe Glasgows, zu verscheuchen. Ian lässt sich von der blauen Uniform des schottischen Eisenbahners aber nicht einschüchtern, vielleicht bekommt er auch gar nicht richtig mit, was der Mann von ihm will.
Ian braucht dringend Geld, den letzten Schuss hat er sich heute morgen gesetzt. Und jetzt ist es schon Nachmittag. Seine letzte Hoffnung ist der Berufsverkehr, denn dann ist hier viel los: Neben dem Bahnhofseingang in der Dundas Street führen Treppen hinunter zur U-Bahn-Station Buchanan Street. Die meisten Pendler müssen an Ian vorbei.
Und an Phil. Der steht an einem Pfeiler und streckt jedem Passanten die Obdachlosenzeitung Big Issue hin. »Das erste Interview mit Sinead O’Connor seit drei Jahren«, preist er das Blatt an. Das ist zwar gelogen, denn die irische Sängerin ist keineswegs pressescheu, aber wenn es denn dem Verkauf nützt. Die Zeitschrift kostet bloß achtzig Pence, in London muss man mehr als das Doppelte dafür berappen.
Phil ist für diese wechselhafte Jahreszeit zu dünn gekleidet. Man sieht ihm an, dass er in seinen Jeans und dem Flanellhemd friert. Er zeigt auf die Ladenzeile gegenüber: links ein Zeitungsladen, rechts nebeneinander zwei Kneipen, in der Mitte ein Haushaltswarengeschäft, das ausgerechnet »Home Comforts« heißt. Phil lacht. »Ein komfortables Heim habe ich seit sechs Jahren nicht mehr«, sagt er.
Seine Geschichte ist nicht weiter außergewöhnlich: nach elf Jahren Ehe die Scheidung, Auszug aus der Wohnung, Alkohol, Verlust des Jobs. »Bei meinem Kumpel ist es genau umgekehrt gelaufen«, sagt er. »Bei dem fing es mit dem Rausschmiss aus der Firma an und endete mit der Scheidung.« Auf der Straße sind sie beide gelandet. Phil ist sechsundvierzig, an eine feste Wohnung und an einen Job glaubt er nicht mehr. »Will ich auch gar nicht«, sagt er trotzig. »Ich bin allemal besser dran als Ian.«
Dann erzählt er von Ian. Die beiden haben sich angefreundet, wenn man das Freundschaft nennen kann. Wenn Phil viele Zeitschriften verkauft hat, gibt er Ian ein oder zwei Pfund, manchmal kauft er ihm einen Hamburger in der vornehmen Einkaufsstraße mit einer ganzen Ladenpassage von Juweliergeschäften, keine zweihundert Meter vom Bahnhof entfernt.
Phil kennt Ians Geschichte. »Er wohnt mit seiner Mutter und drei Geschwistern in der Killearn Street in Possil«, sagt er. »Manchmal taucht der Vater für eine Weile auf. Wenn er aber einen Gelegenheitsjob hat, ist er verschwunden, bis er die Kohle wieder versoffen hat. Das ist in Possil völlig normal. Mit vierzehn war für Ian die Schule vorbei. Weil er der Älteste ist, sollte er sich einen Job suchen und zum Familienunterhalt beitragen. Er hat sogar eine Stelle bekommen, im Supermarkt bei ihm um die Ecke. Es war das erste Mal, dass er Geld in der Tasche hatte. Eine Stunde später war es in der Tasche des Dealers. Drei Wochen hat er den Job danach noch gemacht, dann war’s aus.«
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2007 hat die Wohltätigkeitsorganisation Sutton Trust darauf hingewiesen, dass sich die soziale Mobilität in Großbritannien in dreißig Jahren nicht
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