Lesereise Tschechien
erstreckt sich bekanntlich als klassisches Mittelgebirge über mehr als dreihundert Kilometer von der sächsischen Lausitz entlang der polnisch-tschechischen Grenze über das Riesen- und das Altvatergebirge bis zum Niederen Gesenke in Nordmähren. Als Sudetenländer bezeichnete man schon im 19. Jahrhundert im Habsburger Reich gelegentlich die Gebiete der heutigen Tschechischen Republik, also Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien, vormals auch die böhmischen Länder genannt.
Der Erste Weltkrieg schuf neue Tatsachen. Die Donau-Monarchie kollabierte, es entstand der neue Nationalstaat der Tschechen und Slowaken, die nie zuvor auf Dauer vereint gewesen waren. Die deutschsprachigen Bewohner, die unter den Habsburgern lange den Ton angegeben hatten, fanden sich in der Position einer Minderheit wieder, immerhin 3,2 Millionen Menschen, im tschechischen Teil 29,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Am 4. März 1919 demonstrierten Zehntausende von ihnen in den Grenzgebieten für den Anschluss an Deutsch-Österreich, tschechoslowakische Sicherheitskräfte gingen dagegen mit Waffengewalt vor und es gab vierundfünfzig Tote. Für die deutsche Volksgruppe war dies ein schauriges Fanal, dem administrative Beschränkungen folgten. Die zugesicherte Autonomie wurde ihr vorenthalten.
Unter diesem Druck begannen die Egerländer, Böhmerwäldler oder Isergebirgler, die eher einer regionalen Identität verhaftet waren, sich als Sprach- und Schicksalsgemeinschaft zu fühlen. Es verbreitete sich der Sammelname Sudetendeutsche und fand Anwendung auch auf die, die gar nicht im Gebiet der Sudeten, sondern westlich und nördlich des böhmischen Kessels an der Grenze zu Bayern und Sachsen oder auf der Iglauer und Schönhengster Sprachinsel lebten. Jedenfalls gab der Bankangestellte und Turnlehrer Konrad Henlein seiner 1933 gegründeten deutsch-nationalen Sammlungsbewegung den Namen »Sudetendeutsche Heimatfront«. Aus ihr entstand die »Sudetendeutsche Partei«, die erdrutschartige Wahlerfolge erzielte und spätestens ab 1937 mit den Nazis in Berlin konspirierte. Diese sprachen ihrerseits von der »Sudeten-Frage« und provozierten die »Sudeten-Krise«. Dem Münchner Abkommen von 1938 und der Zerschlagung der Tschechoslowakei folgten der Einmarsch »ins Sudetenland« und der Anschluss des neu gebildeten »Reichsgaus Sudetenland« an Nazideutschland.
Wer also heute noch vom Sudetenland spricht, benutzt einen vergifteten Begriff aus einer vergifteten Zeit. Es ist die Zeit, in der die Nazis auch von der »Rest-Tschechei« sprachen und dort ein »Protektorat Böhmen und Mähren« errichteten. Dies ist der Grund, warum nach 1993, als die Tschechoslowakei sich teilte, im deutschen Sprachgebrauch der Ausdruck Tschechei für den neuen Staat politisch unerwünscht war und durch Tschechien ersetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum viele Linke, Juden oder Intellektuelle, die als Deutschsprachige im heutigen Tschechien geboren wurden, sich nicht als Sudetendeutsche, sondern lieber als Deutsch-Böhmen bezeichnen, so wie man es im 19. Jahrhundert tat. Und viele Tschechen gruselt es, wenn sie vom Sudetenland reden hören. Es weckt Erinnerungen an die Zeit, in der Adolf Hitler »die Verdeutschung des Raumes« plante und sein Statthalter Reinhard Heydrich meinte: »Der Tscheche hat in diesem Raum letzten Endes nichts verloren.« In zynischer Weise verkehrte sich der zynische Satz 1945 durch die Vertreibung der Deutschen in sein Gegenteil.
Wie also heute von den Sudetendeutschen reden? Die meisten der Vertriebenen haben keine Scheu vor dem Wort, auch ihre größte Organisation nicht, die Sudetendeutsche Landsmannschaft, der freilich früher vorgeworfen wurde, sich allzu sehr noch im Geleise Konrad Henleins zu bewegen. Peter Becher, der Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins, ein Sozialdemokrat, plädiert im vollen Wissen um die Bedeutungsgeschichte des Begriffs dennoch für seine Verwendung. Weil er sich nun einmal pragmatisch eingebürgert habe, könne man ihn heute »auch halbwegs ohne größeres Bauchweh« gebrauchen.
Auch Tschechen setzen sich mit dieser Frage auseinander. Die Schriftstellerin Alena Wagnerová schrieb von den »deutschen Tschechoslowaken«. Auf dieser Linie weiterdenkend, könnte man auch von Tschechodeutschen oder Deutsch-Tschechen reden, so wie man von Deutschschweizern spricht, die Schweizerdeutsch parlieren – im Bewusstsein dessen, dass hier keine staatliche oder »völkische«, sondern nur eine
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