Lesereise Tschechien
dass dieses gründlich restaurierte Barockschloss Deutsch Krawarn (auf Tschechisch: Zámek Kravaře) von 1649 bis 1782 im Besitz der Freiherren von Eichendorff war, deren bekanntester Vertreter Joseph Karl Benedikt, der Dichter, 1788 ganz in der Nähe auf Schloss Lubowitz bei Ratibor in Oberschlesien geboren wurde. Ratibor, heute zu Polen gehörig, ist von hier nur etwa zwanzig Kilometer entfernt und war bis 1920 die Kreisstadt des Hultschiner Ländchens.
Im renovierten Schlosspark von Krawarn kann heute Golf gespielt werden, und wer nun von hier durch das Städtchen zum Bahnhof schlendert, der findet auf dem Friedhof ebenso wie am Kriegerdenkmal weitere Indizien für die nachbarschaftliche Melange. Deutsche, tschechische und polnische Namen mischen sich, in Deutsch verkündet eine goldene Marmorinschrift: »Mein Volk! Gedenke derer, die auf deinen Höhen verwundet worden sind.«
Neben solchen historischen Trouvaillen offeriert der Mährisch-Schlesische Bezirk, wie eine Tafel am Bahnhof mitteilt, auch schöne Landschaften fürs Wandern und Radwandern. Bei Hultschin lockt zudem ein großer Stausee in einer alten Kiesgrube zum Baden und zum Wassersport, man nennt ihn hochgemut den Hultschiner Balaton. Zu schweigen von den kleinen Schlössern und Museen, außerdem ist im Wald beim Hultschiner Stadtteil Darkovičky (Klein Darkowitz) noch ein alter Betonbunker erhalten, den die Tschechoslowakische Republik 1935–1938 als Teil eines Befestigungsgürtels vergebens zum Schutz vor dem bösen deutschen Nachbarn baute.
Aber was ist das gegen eine Fahrt im Bummelzug? Der Bahnhof von Kravaře muss einmal stattlich gewesen sein, schon vor Langem wurde ihm allerdings ein Dach aus gewelltem Eternit verpasst, dem der Regen die Vergänglichkeit aufgewaschen hat. In der Wartehalle zeigt ein Schaukasten, was man im Sommer im Schloss zu sehen bekommt: Schüttelsiebe, Getreidesensen, eine Bauernstube und ein herrschaftliches Kabinett mit Schreibsekretär und Cello. »Wo fahren Sie hin?«, fragt die freundliche Bahnhofsvorsteherin mit der roten Mütze. Hlučín. »Da haben Sie noch Zeit.« Sie weist den Weg übers Gleis zum richtigen Bahnsteig. Die Ankunft des Zuges in Hlučín teilt sich der Stadt eine halbe Stunde später dadurch mit, dass urplötzlich eine kleine Menschenmenge den Weg vom Bahnhof zum Zentrum bevölkert.
Eine Reise ins Hultschiner Ländchen ist eben auch eine Reise in den touristisch ungeordneten Alltag der postkommunistischen Provinz. Das Städtchen Hlučín hellt sich allmählich auf, an vielen Häusern wandelt sich der graue Putz der Vorzeit in lindes Grün, helles Blau oder Rosa, und der große Platz in der Mitte ist schon gänzlich aufgefrischt. Hlučín, so sagt Jarmila Harazinová, die Sprecherin der Stadt, hat die gleichen Freuden und Probleme wie alle anderen Kommunen der Republik. Der Wandel ist unverkennbar, wie überall ist auch hier die schwierigste Frage, wie man urbanes Wohlbefinden mit dem stetig wachsenden Autoverkehr in Einklang bringt. Um die Umwelt wird heftig gestritten, ein Bürgermeister ist vor einiger Zeit zurückgetreten, weil seine Pläne für den Bau einer Biogasanlage bei manchen Bürgern auf heftigen Widerstand stießen. Auch die letzten Preußen des Kontinents sind in der Gegenwart angekommen.
Der Name der Lücke
Achthundert Jahre gemeinsamer Geschichte – ein neuer Blick auf die Sudetendeutschen
Im Grunde ist der Name hinderlich, weil er in die Irre führt. Sudetendeutsche – wer weiß in Deutschland schon, was der Begriff genau besagt und wie mannigfaltig er historisch aufgeladen ist? Und wer in Tschechien würde diese einst zum Popanz aufgeblasene Vokabel mit jenem Anflug von Fürsorglichkeit in Verbindung bringen, mit dem der tschechoslowakische Staatsgründer Tomáš G. Masaryk 1927 von »unseren Deutschen« gesprochen hat? Jetzt, an der Schwelle einer neuen Ära des Dialogs zwischen Tschechen und Deutschen, die sich mit Enthüllungen über einstige Verbrechen ebenso ankündigt wie mit anspruchsvollen kulturellen Projekten, ist die ganze Fülle der beiderseitigen Beziehungen in den Blick zu nehmen. Und die liegt jenseits des Horizontes, der mit sudetendeutsch benannt wird.
Die Wortschöpfung ist nicht sehr alt, sie wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg populär. Von einem »temporären Begriff«, der aufkomme und wieder vergehe, sprach der renommierte Historiker Ferdinand Seibt, auch von »einem bei den Geographen entlehnten Verlegenheitsbegriff«. Der Gebirgszug der Sudeten
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