Lesereise Tschechien
Generationen unserer Nation hat die Tragödie von Lidice die Bereitschaft zur Fortsetzung des jahrhundertelangen Zusammenlebens mit den Sudetendeutschen nach dem Krieg beendet.«
Ein paar Tage zuvor indes hatte die Polizei in Saaz (Žatec) mitgeteilt, dass nun das größte bekannte Massaker an Deutschen aus der Zeit der »wilden Vertreibungen« 1945 aufgeklärt sei – vierundsechzig Jahre danach. Auf eine Anzeige aus Deutschland hin hatte zunächst das Bayerische Landeskriminalamt ein Verfahren eingeleitet und es dann an die tschechischen Kollegen abgegeben. In Saaz ermittelte der Kriminalkommissar Pavel Karas seit 2006 aufgrund der Aussagen von siebenunddreißig Zeugen, unter ihnen etliche sudetendeutsche Überlebende, den tschechoslowakischen Hauptmann Vojtech Černý und den Polizeibeamten Bohuslav Marek als Täter. Die beiden waren demnach verantwortlich für die Erschießung von siebenhundertdreiundsechzig Deutschen im Juni 1945. Die Opfer hatte man zusammen mit mehreren Tausend weiteren Männern und Jungen zwischen dreizehn und fünfundsechzig Jahren in der Kaserne von Postelberg zusammengetrieben. Manche wurden einfach erschossen, andere zuvor gequält und gefoltert, indem man sie mit dem Kopf nach unten aufhängte und darunter Feuer anzündete. Außer den siebenhundertdreiundsechzig, deren Leichen schon 1947 exhumiert wurden, sind in Postelberg wohl weitere Hunderte von Deutschen damals ums Leben gekommen, rund zweitausendzweihundert im Ganzen.
Für Experten war es keine Neuigkeit. Der tschechische Historiker Tomáš Staněk hatte schon 1996 geschrieben: »Was sich hier abspielte, gehörte offenkundig zum Allerschlimmsten aus einer ganzen Reihe von Tragödien des Zeitabschnitts im Mai und Juni 1945 in Böhmen.« Und der sudetendeutsche Heimatkreis Saaz, dessen Angehörige großteils bei Nürnberg leben, breitet auf seiner Website schon seit geraumer Zeit Dokumente aus dem Jahr 1947 aus, die das Geschehen belegen. Dort werden auch weitere Verantwortliche genannt.
Mit dem Heimatkreis-Aktivisten Peter Klepsch, der 1945 als Siebzehnjähriger in Postelberg zu den Geschundenen zählte, und einem weiteren Überlebenden trafen sich die Gymnasiasten aus Louny und Kadaň, um den Marsch der Männer und Knaben von Saaz ins fünfzehn Kilometer entfernte Postelberg nachzuvollziehen. Schüler aus Chomutov gingen den Weg eines weiteren Todesmarsches zur sächsischen Grenze nach. Andere studierten Akten, interviewten Zeitzeugen und diskutierten.
In den folgenden Monaten schrieben die Mitwirkenden in den vier Gymnasien die gewonnenen Erkenntnisse auf und dokumentierten sie. Es wurde daraus eine Wanderausstellung konzipiert, die an verschiedenen Schulen präsentiert wurde, zudem stellte man ein Buch zusammen, eine Art Reiseführer zu den Stätten der Verbrechen. Am 27. Januar 2011 überreichte der Lehrer Zdeněk Zákutný bei einer Feierstunde in Postelberg dem tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg, der die Schirmherrschaft über die Wanderausstellung übernommen hatte, zum krönenden Abschluss des Projekts dieses Buch, anschließend führte der Politiker mit den Schülern eine angeregte Diskussion.
Eine wichtige Frage, die nicht nur die Schüler bewegte, war auch die Errichtung eines Denkmals für diejenigen, die 1945 in Postelberg ums Leben gekommen sind. Mehrere Jahre lang wurde darüber in dem Städtchen diskutiert. Dem Fachausschuss, den die Stadtverordnetenversammlung dazu einberief, gehörte auch der Deutsche Otokar Löbl an, der 1970 als zwanzigjähriger Regimegegner aus Saaz emigriert war und heute in Frankfurt am Main einen Förderverein für seine Heimatstadt leitet. Er propagiert einen »Saazer Weg« der Vergangenheitsbewältigung und setzt sich dabei bewusst von der Sudetendeutschen Landsmannschaft ab: »Ohne Erinnerung kann es keine Versöhnung geben, aber ewige Vorwürfe führen auch nicht zum Ziel.«
Löbl hatte schon im Dezember 2007 ein Mahnmal in Postelberg verlangt und damit eine heikle Diskussion in Gang gesetzt. Die Kommunisten waren strikt dagegen, andere befürworten die Initiative, die Auseinandersetzung wurde schwierig. Die große Streitfrage war, welchen Text die Gedenktafel tragen sollte, wie weit man ins Detail gehen wolle und ob die Zeit dafür wirklich schon reif sei. Nach langem Hin und Her einigte man sich auf die folgende Formulierung: »Allen unschuldigen Opfern der Postelberger Ereignisse im Mai und Juni 1945«. Das Denkmal wurde Anfang Juni 2010 in Anwesenheit des deutschen
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