Letale Dosis
irgendwie – ölig. So ölig wie seine Bilder, wenn du verstehst, was ich meine.«
Fink drehte sich um, sah sie verständnislos an. »Nein, ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte er. »Er ist mein Sohn.«
»Ja, genau das meine ich, er ist dein Sohn. Genau wie Jürgen dein Sohn war, aber du wolltest ihn nicht als das sehen, was er war, ein Mensch. Du wolltest ihn nach deinem Ebenbild formen, du wolltest deine Eigenschaften auf ihn übertragen. Aber das ist dir nicht gelungen. Und jetzt hast du ihn verloren«, sagte sie kühl. »Du hast ihn verloren, wie du schon lange vor ihm Laura verloren hast. Wie kannst du mit diesem Gedanken leben?«
»Was willst du?« fragte er, die Augen zu Schlitzen verengt.
»Nichts, du hast davon angefangen. Du sagst, es wäre nicht richtig, wenn wir uns hier im Haus Gottes lieben würden. Du hast mir damit einfach die Stimmung verdorben. Es mag sein, daß ich ungerecht bin; wenn es so ist, dann verzeih mir bitte. Es soll nicht wieder vorkommen. Und bitte, leg nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage. Du kennst mich doch, ich bin ein Skorpion, und Skorpione haben nun mal die Eigenschaft, ab und zu den Giftstachel einzusetzen. Komm, lächle und laß uns die wenige Zeit, die wir haben, nutzen.«
»Warum kann ich dir bloß nie böse sein?« fragte er und lächelte wie auf Kommando.
»Weil ich anders bin als die andern. Das ist das ganze Geheimnis. Ich bin keine Marionette, mit der man spielen kann, ich bin jemand, der die Regeln in einem Spiel bestimmt. Und ich habe das Gefühl, meine Spielregeln gefallen dir. Warte«, sagte sie, nahm ihre Handtasche vom Schreibtisch, holte einen Zettel heraus, faltete ihn auseinander und stellte sich wieder seitlich hinter ihn. Sie hatte die Handtasche über die Schulter gehängt.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagte sie mit einem Lächeln, das er nicht sehen konnte, vor dem er aber erschrocken wäre, hätte er es gesehen. Sie hielt den Zettel in der einen Hand, mit der andern griff sie in die Tasche.
»Mach die Augen zu«, sagte sie, »ich habe eine Überraschung für dich.«
»Ein Blatt Papier?« fragte er ungläubig lachend. »Was soll das für eine Überraschung sein?«
»Mach die Augen zu, du wirst es gleich sehen. Aber erst wieder aufmachen, wenn ich es sage.«
Sie holte vorsichtig die Spritze aus der Tasche, legte den Zettel auf den Tisch.
»So, du kannst die Augen wieder aufmachen«, sagte sie und hielt die Injektionsnadel etwa einen Zentimeter neben seinen Hals.
Er öffnete die Augen, blickte auf das Blatt Papier, griff in seine Hemdtasche, setzte die Brille auf. Er beugte sich vor, begann zu lesen. Mit einem Mal wich alle Farbe aus seinem Gesicht, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er las mit ungläubigem Staunen die Zeilen. Sein Mund und seine Kehle wurden trocken wie Wüstensand.
»Was ist das?« fragte er fassungslos, ohne sich umzudrehen.
»Was das ist?« fragte sie zurück. »Du weißt es doch. Du weißt es ganz genau. Lies weiter.«
»Woher hast du das?« fragte er mit belegter Stimme und wollte sich umdrehen, doch mit einem Mal spürte er etwas Spitzes an seinem Hals.
»Bleib ganz ruhig sitzen«, sagte sie kalt. »Du willst also wissen, woher ich das habe? Ich werde es dir sagen – von meiner Mutter. Oder besser gesagt, ich habe es bei ihr gefunden. Klingelt jetzt etwas bei dir?«
»Das ist eine Ewigkeit her«, stammelte er. »Eine Ewigkeit!«
»Nein, keine Ewigkeit, denn die Ewigkeit ist mathematisch nicht zu berechnen. Aber das hier läßt sich sehr leicht nachrechnen. Ich bin der lebende Beweis dafür.«
»Mein Gott, ich konnte doch nicht wissen, daß du …«
»Nein, das konntest du nicht, wie auch!« spie sie ihm verächtlich entgegen. »Meine Mutter mußte mich direkt nach meiner Geburtweggeben. Sie mußte es, weil du sie dazu gezwungen hast. Du hast sie gezwungen, etwas zu tun, was sie niemals wollte! Und wenn sie in der Gosse gelebt hätte, sie hätte mich behalten wollen. Aber du hast all deine Macht eingesetzt, du hast sie gedemütigt und mißbraucht, du hast sie mit Schlägen gefügig gemacht, und als sie nicht mehr weiter wußte, hat sie dieses Papier unterschrieben. Zwanzigtausend Mark, auch damals nicht gerade eine Menge Geld. Weißt du eigentlich, was aus ihr und mir geworden ist …?
Sie lebt, nein, sie vegetiert jetzt im St. Valentius Krankenhaus vor sich hin, ein Zombie, keine Sprache, keine Gefühle, keine Regungen, sie ist tot. Nur ihr Herz schlägt noch, das ist alles. Zweimal in
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