Lettie Peppercorn und der Schneehaendler
wie es kommen würde. Noah würde davonschwimmen und Lettie verlassen müssen. Sie las es in dem Schweigen, das sich wie eine immer größer werdende Entfernung zwischen ihnen ausbreitete.
Mit Noah war sie dem Geheimnis des Schnees auf die Spur gekommen und den Geheimnissen der Alchemie. Mit ihm hatte sie alles zusammen erlebt, die Kämpfe, die Fluchten, die sternenklaren Nächte, die Geschichten und die Chilisuppe. Sobald er weg war, hätte sie wieder nichts. Dann wäre die Wolke über ihrem Kopf neben Periwinkle ihr einziger Freund.
Und an alldem war nur diese dämliche Alchemie schuld!
»Blöd, blöd, blöd!«, schimpfte Lettie leise. Und dann schrie sie so laut, dass die Fischer erschraken und hinter ihren Ständen hervorgelaufen kamen: »WARUM KANN ETWAS NICHT EINFACH SO BLEIBEN, WIE ES IST? Mein Leben war langweilig und öde, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Doch dann machte man mir Hoffnung, dass alles besser werden würde. Aber das wurde es nicht, und jetzt finde ich alles nur noch schlimmer. Wie soll ich es verkraften, eine Familie und einen Freund gefunden zu haben und sie gleich wieder zu verlieren?«
Sie saß auf dem Baum und weinte und fühlte sich unendlich einsam und traurig.
»Oh, Noah«, schluchzte sie. »Ich will den alten Noah wiederhaben. Ich will keinen Wal als Freund und keine Bierflasche als Vater. Und schon gar nicht eine Mutter, die aus Luft besteht. Ich will kein Stein sein. Und du kannst noch nicht mal etwas sagen, um mich zu trösten.«
Noah bewegte sich im Wasser unruhig hin und her, dann tauchte er ein Stück ab.
»Und ich will auch nicht ertrinken!«, sagte Lettie laut. Aber er hörte nicht auf sie, sondern tauchte weiter. Lettie holte tief Luft und klammerte sich an den Ästen fest.
Sobald sie unter Wasser war, hörte sie Noah. Er sang, aber es war anders als alles, was ihr je zu Ohren gekommen war. Noahs Walgesang war seltsam und mächtig und traurig und wunderschön. Er machte, dass das Wasser um Lettie herum bebte und vibrierte. Und da verstand Lettie: Noah war traurig, dass er sie verlassen musste, aber er bedankte sich. Er liebte sein Leben als Wal.
Dann endete sein Lied, und er tauchte wieder auf. Lettie schnappte nach Luft. Das Wasser rann eiskalt am Stamm herunter, und die Sonne begann Letties Kleider zu trocknen.
»Ich danke dir auch, Noah«, sagte Lettie und wrang sich das Wasser aus der Jacke. Dann stieg sie aus der Baumkrone herunter. »Ich weiß nicht, wie du es geschafft hast, aber jetzt geht es mir ein bisschen besser.«
Noah wackelte mit den Flossen, als wollte er sagen: Dafür sind Freunde doch da.
»Wie lange meine Alchemie wohl wirken wird?«, fragte sie. »Wie lange ich wohl warten muss, bis du dich wieder in einen Jungen verwandelst?«
Noah schüttelte wieder die Flossen: Keine Alchemie wirkt ewig.
Und dieser Gedanke ermutigte Lettie noch mehr. »Du hast mir Mut gemacht, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen!«, rief sie lachend. »Wie machst du das bloß?«
Er musste es weder sagen noch singen. Lettie wusste es auch so.
Zweihundertzwölf Mal fragte sie ihn, warum er gehen musste.
»Und ich höre nicht auf zu fragen, bis ich eine zufriedenstellende Antwort bekommen habe!«, sagte sie.
Aber Noah konnte ihr natürlich nicht antworten, außer mit seinen seltsamen Unterwassergesängen. Am Ufer versuchte sie ein letztes Mal, ihn zum Bleiben zu bewegen.
»Du bist mein bester Freund«, sagte sie.
Und: »Du hast mir das Leben gerettet.«
Und sogar: »Du kannst besser Suppe kochen als ich.«
Aber Noah verließ sie, daran führte kein Weg vorbei. Es gibt einfach Dinge, die ins Meer gehören – Wale zum Beispiel, und eben Noah. Zum Abschied schlug er mit der Schwanzflosse, dann drehte er ab und verließ den Hafen. Seine Blätter färbten sich rot und golden, als er sich entfernte, und wurden von der Meeresbrise davongeweht.
»Wir sehen uns wieder, Noah!«, schrie Lettie. »Keine Alchemie wirkt ewig! Du wirst nicht immer ein Wal bleiben, aber wir sind Freunde für immer, hörst du? Eines Tages sehen wir uns wieder!«
Lange stand sie so da, rufend und weinend und winkend. Sie versprach ihm, ihn nie zu vergessen, nie, nie, niemals. Mehr wusste sie nicht zu sagen. Nachdem sie es immer und immer wieder gesagt hatte, verstummte sie und winkte nur noch.
Sie winkte Noah hinterher, dann den Wogen, die er hinterlassen hatte, dann den kleinen Wellen, die sich langsam glätteten. Und als es nichts mehr zu winken gab, wandte sie sich der Stadt
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