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Letzte Ausfahrt Neckartal

Letzte Ausfahrt Neckartal

Titel: Letzte Ausfahrt Neckartal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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diesmal mussten sie nicht klingeln. Die Tür stand sperrangelweit offen.

14
     
    Treidlers Blick drang durch das Halbdunkel des Hausflurs auf der Suche nach etwas Ungewöhnlichem, einer Kleinigkeit, die sich seit dem gestrigen Abend verändert haben könnte. Im ersten Moment sah der Raum aus wie tags zuvor. Nur allmählich nahm am Ende des Ganges auf dem Boden eine Art metallisches Gestänge Form an. Leicht schimmerte die verchromte Oberfläche im schwachen Licht, das durch die halb geschlossene Küchentür fiel. Dann erkannte Treidler die Drahtspeichen und zwei kreisrunde graue Gummischläuche. Und einen Moment später wusste Treidler, was dort, in kaum fünf Metern Entfernung, lag: Stankowitz’ Rollstuhl.
    Er sah zu Melchior, die sich gerade anschickte, einzutreten. Offenbar bemerkte sie den umgestürzten Rollstuhl bisher nicht. Treidler hielt sie mit dem Arm zurück, während er den Zeigefinger auf seine Lippen legte. Wortlos deutete er in Richtung des Rollstuhls. Melchior schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Erneut musste er sie zurückhalten, damit sie nicht in den Gang stürmte.
    Treidler lauschte in die Stille. Nicht nur einmal glaubte er zu hören, wie in einem der Zimmer der Fußboden knarrte. Er konnte sich täuschen. Gleichwohl spürte er, dass etwas geschehen war. Etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Vorsichtig tastete er sich in das Halbdunkel hinein.
    »Onkel Horst«, schrie Melchior plötzlich. Treidler fuhr zusammen und blieb stehen. Ihr Tonfall klang fast panisch. »Was ist geschehen? Wo bist du?«
    Sofern es im Haus jemanden gab, der bisher nichts von ihrer Anwesenheit in Stankowitz’ Wohnung ahnte, wusste der jetzt, dass sie hier waren.
    Trotzdem erhielt Melchior keine Antwort.
    Er erreichte das Ende des Ganges. Zusammengeklappt wie für den Transport lag der Rollstuhl am Boden. Die graue Zudecke mit der Aufschrift der Grenztruppen und eine der Griffmulden fehlten. Ansonsten gab es keine sichtbaren Schäden. Obwohl Treidler genau wusste, dass seine Pistole zu Hause lag, klopfte er instinktiv die Jacke ab. Und ein weiteres Mal verfluchte er Dienstreisen mit dem Flugzeug.
    Vermutlich wäre es besser gewesen, die Wohnung zu verlassen und die Polizei zu rufen. Doch Treidler entschied sich dagegen. Er presste die Lippen aufeinander und machte einen vorsichtigen Schritt über die Räder. Mit der Fußspitze drückte er die Tür zur Küche auf und spähte um den Rahmen. Nichts. Er schob den Kopf weiter vor, um den Raum besser einsehen zu können. Alles sah aus wie tags zuvor. Sogar die Tageszeitung und die angetrunkene Wasserflasche befanden sich noch am gleichen Platz auf der Abstellplatte. Er betrat die Küche und entdeckte in dem schmalen Spalt zwischen der Holzrampe und den Schränken die fehlende Griffmulde des Rollstuhls.
    Melchior tauchte neben ihm auf. In ihren Augen flackerte Verzweiflung. Unvermittelt drehte sie sich um und stürmte los. Treidler konnte sie nicht zurückhalten. Jede Reaktion wäre zu spät gekommen.
    Er hörte, wie sie nach Stankowitz rief. Zwei oder drei Türen schlugen auf, und mit einem Mal herrschte Stille. Es war jene Art von Stille, wie er sie nur aus völlig verlassenen Wohnungen kannte. Treidler musste sich nicht ausmalen, was geschehen sein konnte. Er wusste es bereits – bevor ihr gellender Schrei an sein Ohr drang.
    Nur Sekunden später erreichte Treidler Stankowitz’ Arbeitszimmer. Melchiors Gesichtsausdruck würde er nie vergessen. Dieser offenbarte den Schmerz, den totalen Unglauben dem gegenüber, was sie sah. Sein Herz pochte wie wild, und für eine schier endlose Zeit starrte er nur. Melchior kniete am Boden neben einem verrenkten und seltsam kleinwüchsigen Körper und wimmerte wie ein kleines Kind.
    Jeder Zweifel wäre Blindheit gewesen. Stankowitz lebte nicht mehr. Der Mann, der wie ein Vater für Melchior gewesen war, lag tot in ihrem früheren Kinderzimmer. Die Gesichtsmuskeln hingen schlaff herunter, und seine grauen Augen sahen aus wie zwei leblose Höhlen. Ein dünnes Rinnsal Blut hatte einen Weg aus dem leicht geöffneten Mund gefunden, sich durch den weißen Stoppelbart geschlängelt und war kurz vor dem Adamsapfel angetrocknet. Die abgenähte Hose an den Beinstümpfen glänzte vor Blut. Offensichtlich hatte Stankowitz noch versucht, ohne den Rollstuhl zu flüchten. Doch er hatte nie eine Chance gehabt.
    Obwohl Melchiors Lider geschlossen waren, schimmerten ihre Augenwinkel feucht. Einzelne Tränen sammelten sich dort – noch nicht

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