Letzte Ausfahrt Neckartal
suchte ihren Blick, doch sie wich aus. »Ist Ihnen nicht wohl?«, fragte er und musterte sie.
Melchior schüttelte den Kopf. »Es ist nur …« Sie sprach leise und sah nicht auf.
»Nur was?«
»Ich war Jahre nicht mehr hier. Wenn ich es mir genau überlege, schon bald zehn Jahre nicht. Da hat sich so einiges verändert.«
Das schien mehr eine Ausrede. Eine der nächsten Haltestellen der Buslinie 100 war der Reichstag. »Wir müssen nicht dorthin. Wir können auch an einer späteren Haltestelle aussteigen, wenn Sie wollen.«
»Doch. Wir gehen dorthin – und zwar jetzt.« Sie kramte in ihren Hosentaschen und klemmte einen Zehn-Euro-Schein unter den Aschenbecher. »Was ist? Es sind nur ein paar hundert Meter – wir können auch laufen.«
Mit energischen Schritten ging sie voran, und Treidler folgte ihr. Melchior hatte weder Augen für die prächtigen Botschaftsneubauten und das Hotel Adlon noch für die anderen Gebäude und Geschäfte. Im Eiltempo überquerten sie den Pariser Platz und durchschritten das rechte Torhaus des Brandenburger Tors mit der Statue des Kriegsgottes Mars. Gerne hätte Treidler sich etwas Zeit genommen, das Bauwerk aus Elbsandstein und die Quadriga näher zu betrachten. Doch Melchior bremste erst ihren Schritt, als rechter Hand das Reichstagsgebäude mit seiner imposanten Glaskuppel in Sicht kam.
Auf dem Weg entlang der Ostseite des Gebäudes hin zum Reichstagsufer schaute Melchior auf den Boden und wurde wieder langsamer. Schließlich blieb sie ganz stehen.
»Und wollen Sie immer noch weiter?«, fragte Treidler.
Melchiors angespannte Gesichtszüge verrieten mehr als tausend Worte. Stankowitz hatte gesagt, dass sie noch nie an diesem Ort gewesen sei. Nie hatte sie ihre Schuldgefühle überwinden können – bis heute. Doch sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass die Konfrontation so schmerzhaft werden würde.
Melchior nickte wie in Zeitlupe. Schließlich setzte sie sich in Bewegung. Im Spreebogen gegenüber den Regierungsbauten hingen am Geländer des Damms etwa ein Dutzend schwarzer Metalltafeln mit weißen Kreuzen.
»Ich warte hier.« Treidler blieb einige Meter vor dem Ufer stehen, während Melchior wortlos, aber unbeirrt die breite Treppe nach unten zum Ufer ging.
Mit versteinerter Miene schritt sie das Geländer entlang. Vor jedem Kreuz hielt sie kurz inne, um dessen Inschrift zu lesen, und ging dann weiter – bis zum vorletzten. Dort senkte sie ihren Kopf und schien wie zu Eis erstarrt. Sie hatte den Ort gefunden, der ihre Schuld so stark offenbarte wie kein anderer auf dieser Welt.
Treidler wagte nicht, näher zu treten oder sie anzusprechen. Gleichwohl ahnte er, was in ihr vorging. Noch aus der Entfernung konnte er die Trauer und den unendlichen Schmerz in ihrem Gesicht erkennen. Nichts mehr erinnerte an die tatkräftige und lebensfrohe Carina Melchior, mit der er in Rottweil ein Büro teilte.
Er hätte nicht sagen können, wie lange Melchior vor Franco Lindemanns Kreuz ausharrte. Als sie irgendwann zurückkam, waren ihre Augen gerötet und die Tränenspuren auf ihren Wangen unübersehbar.
Eine Viertelstunde später saßen Treidler und Melchior in der S-Bahn zurück nach Pankow. Nach dem Besuch am Reichstagsufer verspürten beide keine Lust mehr, die Stadtbesichtigung fortzuführen. Melchior drückte sich in eine Ecke und lehnte sich mit dem Hinterkopf an die Scheibe. Sie hatte die Augen geschlossen und sprach die ganze Zeit kein Wort. Auch Treidler hing seinen Gedanken nach, und prompt verpassten sie den Halt am S-Bahnhof Pankow. Die Linie S1 brachte sie weiter nach Pankow-Heinersdorf, wo sie schließlich ausstiegen.
Vor der Unterführung zum gegenüberliegenden Gleis kamen ihnen vier Jugendliche entgegen. Sie schienen kaum älter als sechzehn Jahre und trotz der frühen Tageszeit schon angetrunken. Sie waren unterschiedlich groß, sonst hätte Treidler sie auf den ersten Blick kaum unterscheiden können. Sie glichen sich wie ein Ei dem anderen, trugen Baggy-Jeans, offene Skaterschuhe und Kapuzenpullis in verschiedenen Farben. Als Treidler die Gruppe passierte, zogen die vier fast simultan die Kapuzen hoch. Er ging noch ein paar Schritte. Da regte sich sein kriminalistischer Spürsinn. Er war sich sicher, dass mit den vieren etwas nicht stimmte, dass sie etwas vorhatten. Melchior befand sich bereits auf der Treppe hinunter in die Unterführung. Er hingegen blieb vor dem nächsten Pfeiler stehen und drehte sich um.
Treidlers Instinkt trog ihn nicht. In vielleicht
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