Letzte Ehre
Sackkleider für uns Frauen »zusammengeflickt« hatte. Ich konnte es gar nicht erwarten, meines anzuprobieren. Ich war mir sicher, daß wir, wenn wir fertig ausstaffiert waren, von drei wandelnden Schlafzimmervorhängen kaum zu unterscheiden wären. Mit meinen fünfunddreißig hatte ich eigentlich gehofft, als ältestes Blumenmädchen aller Zeiten in die Geschichte einzugehen, aber Rosie hatte beschlossen, diesen Part nicht zu besetzen. Es würde die Hochzeit des Jahrzehnts werden, und nicht für alles Geld der Welt hätte ich sie versäumen wollen. Was uns zu den »sich überstürzenden Ereignissen« zurückbringt, wie wir so etwas im Kriminalfach nennen.
Ich begegnete Henry morgens um neun Uhr, als ich aus meinem Apartment kam. Ich lebe in einer umgebauten Einzelgarage, die mit Henrys Haus durch eine überdachte Passage verbunden ist. Ich war auf dem Weg zum Supermarkt, wo ich mich für die nächsten Tage mit Fertigmahlzeiten eindecken wollte. Als ich meine Tür aufmachte, stand Henry mit einem Notizzettel und einer Rolle Tesa(-film) davor. Anstelle seiner gewohnten Shorts, dem T-Shirt und den Gummilatschen trug er lange Hosen und ein blaues Sporthemd mit hochgekrempelten Ärmeln.
Ich sagte: »Du siehst ja umwerfend aus.« Sein Haar ist schlohweiß, und er hat normalerweise einen Seitenscheitel. Heute war es mit Wasser geglättet, und ich konnte noch die warme Zitrusnote seines Rasierwassers riechen. Seine blauen Augen wirken in seinem schmalen, gebräunten Gesicht wie lodernde Flammen. Er ist groß und schlank, freundlich, klug und sein Benehmen eine perfekte Mischung aus Ritterlichkeit und Ungezwungenheit. Wenn er nicht alt genug wäre, um mein Opa zu sein, hätte ich ihn mir im Handumdrehen geschnappt.
Henry lächelte, als er mich sah. »Da bist du ja. Ausgezeichnet. Ich wollte dir gerade einen Zettel schreiben. Ich dachte, du seist nicht zu Hause, sonst hätte ich geklopft. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen, um Nell und die Jungs abzuholen, aber ich möchte dich noch um einen Gefallen bitten. Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Sicher. Ich wollte gerade zum Supermarkt gehen, aber das eilt nicht«, sagte ich. »Was gibt’s?«
»Erinnerst du dich an den alten Mr. Lee? Hier im Viertel wurde er Johnny genannt. Das ist der Herr, der um die Ecke in der Bay Street gewohnt hat. Das kleine, weiß verputzte Haus mit dem zugewachsenen Garten. Genauer gesagt hat Johnny in der Wohnung über der Garage gewohnt. Sein Enkel Bucky und dessen Frau wohnen im Haus.«
Der betreffende Bungalow, an dem ich täglich bei meiner Jogging-Runde vorbeikam, war ein heruntergekommenes Wohnhaus, das aussah, als wäre es in einem Feld voller wildem Gras vergraben. Das waren keine feinen Leute, es sei denn, man betrachtete ein aufgebocktes Auto als eine Art Gartenschmuck. Die Nachbarn beschwerten sich schon seit Jahren, doch es nützte nichts. »Ich kenne das Haus, aber der Name sagt mir nicht viel.«
»Du hast sie wahrscheinlich drüben bei Rosies’s gesehen. Bucky macht einen netten Eindruck, aber seine Frau ist seltsam. Sie heißt Babe. Sie ist klein und mollig und vermeidet meistens Blickkontakt. Johnny sah immer aus wie ein Obdachloser, aber er hatte sein Auskommen.«
Langsam erinnerte ich mich an das Trio, das er beschrieb: alter Knabe in einem schäbigen Jackett, das Pärchen grapschte sich gegenseitig an den Hintern und sah zu jung aus, um verheiratet zu sein. Ich hielt mir eine Hand ans Ohr. »Du hast die Vergangenheitsform verwendet. Ist der alte Mann tot?«
»Leider. Der Ärmste hatte einen Herzinfarkt und ist vor vier oder fünf Monaten gestorben. Ich glaube, es war irgendwann im Juli. Nicht daß irgend etwas daran auffällig gewesen wäre«, fügte Henry eilig hinzu. »Er war erst Mitte siebzig, aber seine Gesundheit war nie die beste. Auf jeden Fall ist mir vor kurzem Bucky begegnet, und er hat ein Problem, zu dem er mich um Rat gefragt hat. Es ist nicht dringend. Es ist nur lästig, und ich dachte, daß du ihm vielleicht weiterhelfen könntest.«
Ich dachte an einen nicht gekennzeichneten Schlüssel zu einem Banksafe, unauffindbare Erben, verschwundene Wertsachen, eine zweideutige Formulierung im Testament, eben eine dieser ungeklärten Fragen, die die Lebenden von den jüngst Verstorbenen erben. »Sicher. Worum geht’s?«
»Möchtest du die lange oder die kurze Fassung?«
»Die lange, aber sprich schnell. Das erspart mir eventuell Fragen.«
Ich sah, wie Henry sich mit einem raschen Blick auf die Uhr auf sein
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