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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Spekulationen über den Verbleib des Geldes. Allerdings sollte sich herausstellen, daß das Geld verschwunden blieb, genau wie Ray Rawson, seine betagte Mutter und seine Tochter Laura, deren Lebensgefährte mit von Kugeln durchlöchertem Leib im Leichenschauhaus aufgebahrt lag.
    Ich beharrte unbeirrt darauf, daß man mich mit vorgehaltener Waffe zum Mitkommen gezwungen und schließlich niedergeschlagen und zurückgelassen hatte, als ich nicht mehr nützlich war. Wer sollte mir schon widersprechen? Es half, daß sich Lieutenant Dolan, als man in Santa Teresa anrief, für mich verwendete und meine leicht besudelte Ehre verteidigte. Der die Ermittlungen leitende Polizist schrieb meine Schilderung der Ereignisse mühevoll in Druckbuchstaben nieder, und ich erklärte mich bereit, als Zeugin zur Verfügung zu stehen, wenn (und falls) Ray Rawson und sein fröhliches Häufchen festgenommen und vor Gericht gestellt wurden. Ich für meinen Teil glaube nicht, daß die Chancen besonders gut stehen. Zum einen verfügt Ray über das ganze Geld und zum anderen über seine im Lauf von vierzig Jahren geknüpften Kontakte sowie die in dieser Zeit im Gefängnis erworbene kriminelle Gerissenheit. Ich bin mir relativ sicher, daß es ihm gelungen ist, drei falsche Identitätsnachweise — Pässe eingeschlossen — sowie Tickets erster Klasse zu unbekannten Gefilden zu besorgen.
    Als ich am Mittwoch morgen entlassen wurde, nahm mich eine Krankenschwester, die gerade Dienstschluß hatte, mit in das Viertel namens Portland, wo Helen Rawson lebte. Ich stieg an der Ecke aus und ging das restliche Stück zu Fuß. Das Haus war dunkel. Die Hintertür stand offen, und ich konnte sehen, daß zahlreiche Kleidungsstücke bei ihrem überstürzten Aufbruch zu Boden gefallen waren. Ich ging ins Schlafzimmer und schaltete die Nachttischlampe an. Alle Pillen der alten Dame waren verschwunden, ein sicheres Zeichen dafür, daß sie sich mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin aus dem Staub gemacht hatte. Ich nahm mir die Freiheit, ihr Telefon zu benutzen und machte mir nicht die Mühe, das Gespräch auf eine Kreditkarte buchen zu lassen. Es war zermürbend, bis ich endlich jemand erreichte. Ich versuchte es bei Henry und erreichte wieder seinen Anrufbeantworter. War der Mann denn nie zu Hause? Ich versuchte es bei Rosie, wo niemand abnahm. Ich rief meine Freundin Vera an, die mit ihrem Ehemann, der Arzt war, über das lange Thanksgiving-Wochenende weggefahren sein mußte. Ich rief meinen alten Freund Jonah Robb an. Niemand da. Ich versuchte es sogar bei Darcy Pascoe, der Empfangsdame der Firma, bei der ich einmal gearbeitet habe. Ich hatte kein Glück und begann langsam in Panik zu geraten, während ich mir den Kopf darüber zerbrach, wer in aller Welt mir aus dieser Notlage helfen könnte. Voller Verzweiflung rief ich schließlich die einzige Person an, die mir einfiel. Das Telefon klingelte viermal, bis sie abhob. Ich sagte: »Hallo, Tasha? Hier ist deine Cousine Kinsey. Erinnerst du dich noch daran, daß du gesagt hast, ich solle anrufen, wenn ich etwas brauchte?«

Epilog

    Die Hochzeit fand am Spätnachmittag des Thanksgiving-Tages statt. Rosie’s Restaurant hatte mit Hilfe von Blumen, Kerzen und Raumsprays eine Verwandlung erfahren. Rosie in ihrem weißen Hängerkleid, einen Kranz aus Schleierkraut im Haar, und William in seinem Smoking standen vor Richter Raney und hielten zärtlich Händchen. Ihre Gesichter glänzten. Im Kerzenschein sahen sie zwar nicht jung aus, aber auch nicht so besonders alt. Sie strahlten ein Leuchten, eine Intensität aus... als würden sie von innen heraus brennen. Alle schienen an den gemachten Versprechungen Anteil zu haben. Henry, Charlie, Lewis, Nell und Klothilde in ihrem Rollstuhl. Die Formel »in guten wie in schlechten Tagen, in Reichtum oder Armut, in Krankheit wie Gesundheit« betraf sie alle. Sie wußten, was lieben und geliebt werden bedeutete. Sie wußten um Schmerz, Gebrechlichkeit und die Weisheit des Alters.
    Ich stand da und dachte über Ray, Laura und Helen nach und fragte mich, wohin sie wohl gegangen waren. Ich weiß, es ist absurd, aber es schmerzte mich, daß sie sich nicht genug Gedanken gemacht hatten, um dazubleiben und sich zu vergewissern, daß mir nichts fehlte. Auf eine bestimmte merkwürdige Art waren sie zu meiner Familie geworden. Ich hatte uns als Einheit angesehen, die sich gemeinsam Widrigkeiten entgegenstellt, selbst wenn es nur ein paar Tage lang anhielt. Nicht, daß ich geglaubt hätte, wir

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