Letzte Haut - Roman
erst foltern, foltern mit jeder Sequenz deines verbrauchten Lebens, damit du mir Rede und Antwort stehst? Muss ich dich wirklich erst verhören, verhören wie all die Verbrecher, die ich als Ermittlungsrichter vor mir auf den Stühlen gehabt habe? Ich soll dich wie einen Verdächtigen behandeln, dem ich etwas zu beweisen habe? Aber was? Du wirst es mir sagen, davon bin ich überzeugt. Zwischen diesen schrumpligen, trockenen Lippen wird es hervorgekrochen kommen, und ich werde es hören. Auch wenn ich bis an mein Lebensende hier vor dir stehen und sitzen muss. All diese Falten, die tarnen nur deine Gesundheit, davon bin ich überzeugt. Du siehst gesund aus. Siebzig Jahre sieht man dir nicht an. Steh gerade, verdammt! Wackel nicht so, wenn ich mit dir rede. Das Verhör beende immer noch ich. Na also, kerzengerade kannst du noch stehen. Kein Übergewicht, nicht mal einen Bauchansatz. Einen Meter dreiundneunzig groß, vereinzelte Altersflecke auf der Haut, sicherlich, das ist nichts Neues. Vorwiegend auf den Händen und am Hals, aber auch auf dem Gesicht. Dein Gesicht, ausdruckslos wie die Maske des Königs von Frankreich, den sein Bruder im Kerker faulen ließ. Was ist hinter dieser wie Eisen wirkenden Maske, Fäulnis? Die Fäulnis welchen Vergehens? Was verbirgst du vor mir, was verheimlichst du vor mir, was? Du bist kein anderer. „Du nicht“, flüsterte Doktor Kurt Schmelz, ehemals SS Ermittlungsrichter im Wehrkreis Hessen-Thüringen und Beamter der Kriminalpolizei Berlin.
Er wischte sich mit flachen Händen übers Gesicht, stockend, immer wieder hoch und runter, dann kreisend. Über die Glatze nach hinten, über die Ohren zurück, den Blick starr geradeaus gerichtet, mitten hinein in die blauen Pupillen. Die Zeigefinger hart über den Augenbrauen, dass die Stirnhaut sich straffte und zusammenzog. Die Fingerspitzen über die Wangen, hart drückend, als die Finger sich plötzlich krümmten, die Nägel in die Haut über den Wangenknochen fuhren. Tief, reißend, acht Fingernägel, die die Gesichtshaut aufkratzten, um den plötzlichen Juckreiz zu lindern, während der Blick erbarmungslos starrte: „Jedem das Seine.“
Erschrocken hielt Schmelz inne, ging einen Schritt zurück, erinnerte sich an diese Worte, erinnerte sich, wie er sie fixierte, bevor er zum ersten Mal das Innere Lager des Konzentrationslagers Buchenwald betrat, um seine Pflicht zu tun. Ins Tor waren sie geschmiedet worden. Als Verzierung.
„Jedem das Seine“, hatte Lagerleiter Karl Koch lachend gesagt: „Und mir das meiste!“
Doktor Kurt Schmelz hörte ihn lachen. Dieses bellende Gelächter. Nein. Krächzend.
Er dachte: Nichts ist vergessen und niemand, denn Wahrheit ist, was sich auszahlt. Und auch die Wahrheit dieses achten Juni dreiundvierzig, der Tag meines vierunddreißigsten Geburtstags, auch die wird sich auszahlen. So oder so.
III
Aufgeregt zwitscherten Spatzen irgendwo in den Wipfeln der jungen Bäume, die im Lager Buchenwald entlang der Hauptstraße angepflanzt worden waren. Obersturmführer Schmelz hob beim Gehen den Kopf, musste ihn aber der strahlenden Junisonne wegen schnell wieder senken. Er blinzelte ein paar Mal und konzentrierte sich wieder auf das nahe Ende der Straße: Das eiserne Tor des Inneren Lagers, das mit jedem Schritt größer wurde. Was für eine schöne Schmiedearbeit das sei, meinte Kurt Schmelz. Sie müsse gutes Geld gekostet haben.
Irgendwo waren Enten, Schmelz sah auf die Uhr. Ihm blieben noch sieben Minuten bis zur elften Stunde. Genug Zeit also, den Koffer kurz abzustellen, den Sitz der Uniform zu überprüfen und sich zu sammeln. Der erste Eindruck zähle, der vierunddreißigjährige Schmelz wollte sich unbedingt nach dieser Regel richten. Musste! Er musste diese zweite Chance nutzen, wenn er nicht endgültig abgeschoben werden wollte.
Er musste!
Die beiden Posten kamen aus ihren Häuschen und richteten die Mündungen der Maschinenpistolen auf ihn, Schmelz jedoch zuckte nicht einmal mit den Wimpern: „Obersturmführer Schmelz, melden Sie mich dem Lagerleiter, Standartenführer Pister!“
„Zu Befehl, Obersturmführer!“, erwiderte der Obersturmmann, während der einfache Sturmmann mit unbewegter Miene stehen blieb und Schmelz nicht aus den Augen ließ.
Schmelz erlaubte sich nicht, den Koffer abzustellen, und starrte dem einfachen SS Mann solange direkt in die Augen, bis dieser demütig den Blick senkte. Schmelz biss sich verstohlen auf die Unterlippe, um nicht lächeln zu müssen, und stellte nun
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