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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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beidhändig fest. Nachdem der Bär (falls es einer war) die Außentür aufbekommen hatte, drückte er seinen Oberkörper gegen das Fliegengitter. Auf wackligen Beinen, aber aufrecht, kam er ins Haus. Die langen weißen Zähne schimmerten gespenstisch.
    »Ich bin kein Bär, Cookie«, sagte Ketchum.
    Das leuchtende Weiß, in Dannys Vorstellung die gebleckten Zähne des Bären, war der frische Gips an Ketchums rechtem Unterarm. Der Gips reichte von der Mitte seiner Handfläche bis zur Armbeuge. »Tut mir leid, Leute, wenn ich euch erschreckt habe«, fügte Ketchum hinzu.
    »Mach die Außentür zu, ja? Ich geb mir alle Mühe, dass es hier drin warm bleibt«, sagte der Koch. Danny sah, wie sein Vater die Pfanne auf die unterste Treppenstufe legte. Ketchum versuchte, mit der linken Hand die Außentür zuzuziehen. »Du bist besoffen«, stellte Dominic fest.
    »Ich hab nur einen Arm, Cookie, und ich bin Rechtshänder«, sagte Ketchum.
    »Trotzdem bist du besoffen«, sagte Dominic Baciagalupo zu seinem alten Freund.
    »Vermutlich weißt du noch, wie das ist«, erwiderte der.
    Danny half Ketchum beim Zuziehen der Außentür. »Bestimmt hast du einen Mordshunger«, sagte er zu ihm. Der leicht schwankende, stämmige Mann verstrubbelte ihm die Haare.
    »Ich muss nichts essen«, sagte Ketchum.
    »Aber vielleicht wirst du davon schneller nüchtern«, sagte der Koch und öffnete den Kühlschrank. »Ich habe noch etwas Hackbraten, der schmeckt kalt gar nicht übel. Du kannst Apfelmus dazu haben.«
    »Ich brauche nichts zu essen«, wiederholte der stämmige Mann. »Du musst mit mir kommen, Cookie.«
    »Wo soll's denn hingehen?«, fragte Dominic, doch sogar Danny merkte, wenn sein Vater vorgab, etwas nicht zu wissen, was er offensichtlich doch wusste.
    »Du weißt, wohin«, sagte Ketchum. »Ich erinnere mich nur nicht an die genaue Stelle.«
    »Weil du zu viel trinkst, Ketchum, deshalb erinnerst du dich nicht«, sagte Dominic.
    Als Ketchum den Kopf senkte, schwankte er noch mehr. Einen Augenblick lang dachte Danny, der Flößer würde umkippen. Und weil beide Männer jetzt leiser sprachen, merkte der Junge, dass sie verhandelten. Sie achteten auch darauf, nicht zu viel zu sagen, denn Ketchum wusste nicht, was Dominic dem Zwölfjährigen über den Tod seiner Mutter erzählt hatte, und Dominic wollte nicht, dass sein Sohn zu viele unerwünschte Details erfuhr, die Ketchum in diesem Moment einfallen mochten und die den Jungen erschrecken könnten.
    »Probier einfach mal den Hackbraten, Ketchum«, sagte der Koch leise.
    »Mit Apfelmus schmeckt er ziemlich gut«, ergänzte Danny. Der Flößer ließ sich vorsichtig auf einem Hocker nieder. Seinen neuen weißen Gips legte er auf die Arbeitsplatte. Alles an Ketchum war kantig wie ein geschnitzter Stock - und, wie Danny aufgefallen war, »irre hart« -, weshalb der weiße, zerbrechlich wirkende Gips an dem Mann so deplatziert wirkte wie ein künstliches Glied. (Hätte Ketchum einen Unterarm verloren, hätte er sich mit dem Stumpf beholfen - und ihn vielleicht als Knüppel verwendet.)
    Doch jetzt, wo Ketchum saß, sah er in Dannys Augen wieder so ungefährlich aus, dass man ihn berühren konnte. Noch nie zuvor hatte der Junge einen Gips angefasst; sogar in betrunkenem Zustand wusste Ketchum irgendwie, was Danny gerade dachte. »Na los - du darfst ihn anfassen«, sagte der Flößer und hielt dem Jungen seinen Gips hin. An Ketchums gekrümmten Fingern, die starr aus dem Gips herausragten, klebte getrocknetes Blut oder Harz. Bei einem gebrochenen Handgelenk tat es die ersten paar Tage weh, die Finger zu bewegen. Vorsichtig berührte der Junge Ketchums Gips.
    Der Koch brachte Ketchum eine große Portion Hackbraten mit Apfelmus. »Es gibt Milch oder Orangensaft«, sagte Dominic, »ich könnte dir aber auch einen Kaffee machen.«
    »Was für eine traurige Auswahl!«, sagte Ketchum und blinzelte Danny zu.
    »Traurig«, wiederholte der Koch und sagte dann kopfschüttelnd: »Ich mach einen Kaffee.«
    Danny wünschte, die beiden Männer würden einfach über alles reden. Der Junge wusste viel über die Vorgeschichte der beiden, aber nicht genug über seine Mutter.
Kein
Detail über ihren Tod könnte ihn erschrecken, dachte Danny - er wollte alles hören. Doch der Koch war ein vorsichtiger Mensch oder jedenfalls zu einem geworden; und selbst Ketchum, der sich von seinen eigenen Kindern entfremdet hatte, war Danny gegenüber ausgesprochen aufmerksam und fürsorglich - so hatte er sich auch gegenüber Angel

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