Letzte Nacht in Twisted River
Ketchum brummte: »Du durftest sie nicht sehen, das konnte ich unmöglich zulassen, Cookie - das wäre nicht richtig gewesen.«
»Ich verstehe«, sagte der Koch.
Auf der Treppe schloss Danny wieder die Augen, er sah die Geschichte vor sich, die er auswendig kannte - der betrunkene Ketchum ging in kleinen Schrittchen auf den Stämmen, dabei hielt er die Hände in den Überlauftümpel. »Komm nicht hierher, Cookie!«, hatte Ketchum in Richtung Ufer gerufen. »Versuch ja nicht, auf den Stämmen zu gehen - oder auf dem Damm!«
Dominic hatte zugesehen, wie Ketchum seine tote Frau an der Sperre entlangtrug. »Aus dem Weg, Cookie!«, hatte Ketchum gerufen, als er auf den Stämmen näher kam. »Du darfst sie nicht sehen - sie ist nicht mehr die, die sie mal war!«
Der ebenfalls betrunkene Koch hatte die Decke von der Ladefläche von Ketchums Pick-up genommen. Doch Ketchum weigerte sich, an Land zu kommen. Obwohl er betrunken war, ging er weiter mit kleinen Schrittchen über die Stämme. »Breite die Decke auf der Ladefläche aus, Cookie - und dann geh wieder!« Als Ketchum ans Ufer kam, stand Dominic an der Spitze eines gleichschenkligen Dreiecks - vom Flussufer und von Ketchums Truck gleich weit entfernt. »Halt die Stellung, Cookie, bis ich sie zugedeckt habe«, hatte Ketchum befohlen.
Danny fragte sich, ob daher die häufige Mahnung seines Vaters kam: »Halt die Stellung, Daniel - aber bleib am Leben.« Vielleicht stammte der Ausspruch von Ketchum, der die tote Frau des Kochs sanft auf die Ladefläche seines Pick-ups legte und die Decke über sie breitete. Dominic blieb auf Distanz.
»Wolltest du sie denn nicht sehen?«, hatte Danny seinen Dad immer wieder gefragt.
»Ich vertraue Ketchum«, hatte sein Vater geantwortet. »Vertrau du ihm auch, Daniel, falls mir mal etwas zustoßen sollte.«
Offenbar war er wieder die Treppe nach oben in sein Zimmer geschlichen und eingeschlafen, stellte Daniel fest, als er plötzlich außer den Backdüften auch noch das Lammhaschee roch. Er hatte nicht mitbekommen, wie sein Dad die Außentür der Küche geöffnet und das Lammhack aus der Kühlbox geholt hatte. Der Junge lag immer noch mit geschlossenen Augen im Bett und genoss die vielen Gerüche. Er wollte Ketchum fragen, ob seine Mom mit dem Gesicht nach oben im Überlaufwasser gelegen hatte, als er sie fand, oder mit dem Gesicht nach unten.
Danny zog sich an und ging hinunter in die Küche. Jetzt erst sah er, dass sein Vater sich inzwischen oben angezogen hatte, wahrscheinlich nachdem Ketchum auf dem Klappbett weggetreten war. Er beobachtete seinen Dad bei der Arbeit am Herd. Wenn sich der Koch auf drei oder vier Tätigkeiten gleichzeitig konzentrierte, die alle auf engstem Raum stattfanden, bemerkte man sein Hinken fast nicht. In solchen Augenblicken konnte er sich vorstellen, wie sein Vater im Alter von zwölf Jahren gewesen war - vor dem Unfall. Danny Baciagalupo war mit zwölf ein einsamer Junge; er hatte keine Freunde. Er wünschte sich oft, er hätte seinen Dad als Zwölfjährigen gekannt.
Wenn man zwölf ist, kommen einem vier Jahre lang vor. Annunziata Saetta wusste, dass der Knöchel ihres kleinen Dom keine vier Jahre brauchen würde, um zu heilen. Nunzis geliebter »Wolfskuss« ging schon nach vier
Monaten
wieder ohne Krücken, und mit 13 konnte er so gut lesen wie andere mit 15. Der Heimunterricht funktionierte. Schließlich war Annunziata Grundschullehrerin und wusste, wie viel Zeit an einem Schultag für Disziplinprobleme, Pausen und Essen draufging. Der Junge machte brav seine Hausaufgaben und kontrollierte sie sogar selbst. Danach blieb ihm noch Zeit für jede Menge zusätzlicher Lektüre, außerdem führte er ein Tagebuch mit den Kochrezepten, die er lernte.
Beim Kochen lernte der Junge langsamer, und nach dem Unfall stellte Annunziata ihre eigenen Gesetze zur Kinderarbeit auf. Sie ließ Dominic erst dann in einem Frühstückscafe in Berlin, New Hampshire, arbeiten, als der Junge sich richtig gut in der Küche auskannte, und auch erst, als er sechzehn war. In diesen vier Jahren wurde Dominic zu einem sehr belesenen jungen Mann und zu einem versierten Koch, der weniger Erfahrung im Rasieren hatte als darin, sich humpelnd fortzubewegen.
1940 lernte Dominic Baciagalupo Dannys Mom kennen. Sie war 23 und unterrichtete in derselben Grundschule wie Annunziata Saetta, ja die Mutter des Kochs machte ihren sechzehnjährigen Sohn sogar mit der neuen Lehrerin bekannt.
Diese Begegnung war unvermeidlich. Annunziatas
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