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Letzte Nacht

Letzte Nacht

Titel: Letzte Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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draußen wird die Hölle los sein.
    Es sind noch genau vier Einkaufstage bis Weihnachten, und er hat immer noch keinen Schimmer, was er Deena schenken soll. Nichts für das Baby; die Sachen müssen sie sowieso kaufen. Sie hat ihn schon darauf hingewiesen, dass sie etwas Romantisches haben will – wie die Halskette, die er Jacquie gekauft hat, als sie ein halbes Jahr zusammen waren, aber das ist zu teuer, besonders bei seiner unsicheren Zukunft. Vor kurzem hat sie durchblicken lassen, dass sie heiraten sollten – nicht bloß wegen des Babys, sondern ihretwegen. Immer wenn sie davon anfängt, macht Manny einfach dicht, er weiß auch nicht, warum.
    Die Frage verfolgt ihn durch den Lagerraum bis nach vorn. Das Aquarium ist mit einer heimelig blinkenden bunten Lichterkette, schäbigem Goldlametta und zusammengewürfeltem Weihnachtsschmuck behängt, der schon ein Dutzend Nebensaisons auf dem Lagerschrank überstanden hat. Mit einem Netz schöpft er die Wasseroberfläche ab, beobachtet die trägen, in den Ecken versammelten alten Hummer und denkt gerade an Ohrringe, als der Easy Street‐Bus in mehrere Schichten zerlegt zwischen den Jalousien vorbeihuscht. Der Fahrer ist gut zehn Minuten zu früh – wahrscheinlich aus Angst vor dem Schnee. Manny legt das tropfende Netz auf den Filter und begibt sich nach hinten, damit Eddie nicht dasteht und an den Türrahmen klopft, wie man’ s ihm im Heim beigebracht hat.
    Manny geht ans andere Ende der Bar, zieht an der Ecke die Hüfte ein, strafft dann die Schultern, trippelt kurz und stößt die Schwingtür auf. Es dürfte eigentlich keine Überraschung sein, dass sich sein Körper jede Einzelheit im Lobster eingeprägt hat, aber heute wirkt alles fremd und bemerkenswert, kostbar, weil es schon fast verloren ist.
    Er erreicht die Laderampe, und Eddie steigt gerade die Stufen des Busses herunter, eine nach der anderen wie ein kleines Kind, den Kopf gebeugt, als wäre das eine Ohr an die Schulter geklebt. Seine Augen quellen vor, vergrößert durch die dicke Kassenbrille, und sein Gesicht ist ständig verzerrt, als koste ihn jede Bewegung Mühe. Wegen seiner Knieprobleme braucht Eddie zum Gehen zwei Krücken. Als er auf die Rampe zukommt, knicken die Beine bei jedem Schritt ein, und er wankt heftig, als könnte er jeden Moment stürzen, seine Krü cken zwei nützliche Ausleger, die ihn immer wieder retten. Nicht dass es Manny noch auffallen würde, so geht Eddie eben. Alle paar Jahre muss Manny für die Stiftung eine Beurteilung schreiben, und jedes Mal schreibt er:
    «Eddie ist der beste Mitarbeiter, den ich habe.» Und obwohl das rührselig und in mancher Hinsicht falsch sein mag (er betrachtet Roz als Königin des Speiseraums und Ty als den Fels in der Küche), ist es kein Zufall, dass Eddie heute als Einziger aus der Mittagsschicht pünktlich ist.
    «Big Papi», sagt Eddie.
    «El Guapo.»
    «Weißt du, wie viel es inzwischen ist? Ich hab’s im Radio gehört.»
    «Wieviel?»
    «Zweihundert Millionen.»

    Manny pfeift. «Wie viele Spielscheine hast du?»
    «Ich hab schon fünf. Wenn ich darf, kauf ich mir noch fünf.» Hinter ihm winkt der Fahrer, und Manny winkt zurück und entlässt ihn aus seiner Verantwortung. «Wie viele hast du?»
    «Brother, ich hab nicht mal Geld für Geschenke.»
    «Vielleicht kannst du mir später welche kaufen?»
    «Mal sehen.»
    Eddie hängt sich eine Krücke über den Arm und ergreift das Treppengeländer. Manny weiß, dass Eddie es allein schaffen muss, und als er oben angelangt ist, schüttelt ihm Manny die Hand – eine Formalität, die nichts damit zu tun hat, dass heute der letzte Tag ist, doch unwillkürlich begreift er, dass sie dieses Ritual jetzt zum letzten Mal vollziehen. Wie viele andere letzte Rituale erwarten ihn?, fragt er sich. Wird es den ganzen Tag so gehn?
    Drinnen beauftragt er Eddie, vorn alles abzustauben –  die Jalousien und dann die Balken –, während er das Öl in den Fritteusen wechselt und sie aufheizt. Ob letzter Tag oder nicht, er muss sich an die Checkliste halten und schleppt einen schweren Eimer voll dunkler, stinkender Schmiere nach draußen und über den Parkplatz zum Altfettcontainer. Ein Sperling beobachtet von einem kahlen Baum aus, wie er das Fett hineinschüttet, und reitet auf einem im Wind schaukelnden Zweig. In der Kälte merkt Manny, dass er nicht mehr bekifft ist, dass der private Teil des Tages vorbei ist, auch das zum letzten Mal.
    Als er auf dem Rückweg gerade an eine Zigarette denkt, kommt ihm Ty

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