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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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mit neuer Begeisterung an die Überarbeitung des Schiffstagebuchs, so als wolle sie beweisen, daß James und sie keine Hilfe benötigten. Dennoch hatte das Gespräch mit Palliser sie verunsichert. Das Verbessern der Rechtschreibung, das Straffen oder Unterteilen der langen Sätze ging ihr gut von der Hand, doch wenn sie versuchte, ein ganzes Kapitel zu überblicken und die Reihenfolge der Szenen oder die Strukturierung eines Gedankengangs zu überdenken, war ihr, als entgleite ihr der Text, und sie sei außerstande, die Passagen frei zu verschieben. Oder zu streichen. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß ihr die ganze Zeit ein gestrenger Lehrer mit Samtbarett auf dem Kopf über die Schulter schaute, bereit, ihre Arbeit zu kommentieren und zu beanstanden.
    James war mit ihrer Hilfe zufrieden. In dem Wissen, daß sie später mit dem Korrekturstift darübergehen würde, schrieb er frisch von der Leber weg. Sie beschloß, Pallisers Vorschlag vorläufig nicht zu erwähnen.
    Im Garten lag ein Teppich aus braunem Laub. Es focht sie nicht an. Die Regenwürmer würden die Blätter Stück für Stück in die Erde ziehen; mitunter sah sie ein Blatt aufrecht in der Erde stehen wie eine kleine Vase. Warten mußte sie, ruhig warten, dann wurden die meisten Dinge von selbst gut. Bis auf die Dinge, die nie mehr gut werden würden. Sie beugte sich über den Text. Achtgeben. Sich konzentrieren. Mit der Gemächlichkeit der Würmer den Blick über jedes Wort wandern lassen.
    »Sie haben mich vorgeschlagen!« Mit großen Schritten kam James ins Zimmer. Regentropfen lagen auf seiner Jacke, und seine Haare waren feucht. »Fünfundzwanzig Mitglieder! Drei braucht es nur, aber ich habe fünfundzwanzig. Alle: Banks, Solander, Stephens natürlich und Maskelyne – sogar der alte Forster! Ich werde Mitglied der Akademie!«
    Er sieht auf einmal zehn Jahre jünger aus, dachte sie, mit entspanntem Gesicht, fröhlichen Augen, lachend. Sie stand auf, um ihn zu umarmen, den Stift hinter seiner Schulter erhoben.
    »Ich muß einen Antrittsvortrag halten«, sagte er über ihren Kopf hinweg, »im Frühjahr. Es soll eine Art Abhandlung sein, ein wissenschaftliches Traktat.«
    Aus seiner Stimme sprach Begeisterung, nicht die leiseste Spur von Unsicherheit oder Ranküne.
    »Worüber willst du sprechen?« fragte sie. Sie fühlte, daß er tief Luft holte, sein Brustkasten weitete sich.
    »Essen«, sagte er. »Ich werde über Ernährung schreiben und sprechen.«
    Sie saßen zu dritt am Tisch. Elizabeth hatte eine riesige Pastete zubereiten lassen, gefüllt mit Gemüse, Pilzen und Schafsfleisch. Nat hatte sich zum zweitenmal aufgetan und lauschte andächtig dem Gespräch über die Akademie.
    »Erzählst du auch von den Menschenfressern? Sie verspeisen dort doch Menschen?«
    James legte sein Besteck hin und sah seinen Sohn an. »Ja, sie essen Menschen, aber ich habe noch nicht herausgefunden, warum sie das tun. Ich weiß nicht, ob ich darüber sprechen werde. Es ist besser, wenn ich nur von Dingen spreche, über die ich mir sicher bin.«
    »Kapitän Palliser hat es uns erzählt. Als du noch wegwarst. Sie haben ein ganzes Beiboot voller Männer verspeist! Zehn Männer!«
    »In Neuseeland«, sagte James. »Das war in Neuseeland. Da gab es ein Geplänkel, ein Mißverständnis. Es kam zu einem Gefecht. Sie essen die, die sie besiegt haben, das ist dort so üblich. Es ist schwer, das zu begreifen, dazu reichen unsere Kenntnisse ihrer Sprache auch nicht aus. Ich wollte die Menschen dort nicht bestrafen, weil ich sie nicht verstand. Wir sind weggefahren, ohne Rache zu nehmen.«
    »Und wenn du wieder dorthin kommst, bestrafst du sie dann?«
    Elizabeth horchte auf.
    »Ich glaube nicht, Nat«, sagte James. »Sie kennen es nicht anders, und ich kann nicht viel dagegen ausrichten. Wir sind nur Passanten, wir gehen wieder fort. Aber wie auch immer, ich werde nicht mehr dorthin kommen. Ich bleibe hier.«
    Sie atmete auf. Das Licht kam ihr mit einem Mal schöner vor, wärmer. Sie sog den Duft der heißen Pastete ein und war zufrieden.
    »Auf Tahiti war es anders«, sagte James zu Nat, der seinen Vater immer noch andächtig ansah. »Dort opfern sie Menschen, bewußt. Das wissen sie vorher, das wird ausgemacht, so wie hier ein Verbrecher bestraft wird.«
    »Warst du dabei? Hast du es gesehen?«
    James seufzte. »Ja, ich habe es gesehen. Später habe ich versucht, darüber zu reden, zu fragen, ob es eine Hinrichtung war, eine Form der Bestrafung, oder ob es sich um

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