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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Verrat vor.
    Sie spazierte in dem sonderbar milden Wetter zu Ellys Grab. James arbeitete an seinem Buch, und sie war aus dem Haus gegangen, ohne ihn zu stören. Schämte sie sich für die häufigen Besuche bei ihrer Tochter? Man müsse loslassen, wurde immer gesagt, man müsse akzeptieren, daß Kinder sterben und man sie der Erde übergibt. Es war gefährlich, sich an einem Kind zu erfreuen, denn die Wahrscheinlichkeit, daß es einem genommen wurde, war groß. James wußte das, er hatte drei Schwestern und einen Bruder jung sterben sehen. Sein älterer Bruder starb, zwanzig Jahre alt, als James gerade in Whitby bei Walker in die Lehre gekommen war. Es gab keine Sicherheit und kein Anrecht. Daß sie insgeheim, tief in ihrem Innern, wußte, daß das Kind, das sie jetzt trug, es schaffen würde, entbehrte jeder Grundlage. Es stimmte nicht, daß jedem Verlust eine Belohnung gegenüberstand, daß man ein Kind am Leben erhalten konnte, indem man ein anderes verlor. Im Grunde traf nichts von dem zu, was die Leute sagten. Die Vorstellung, daß es einen Gott gibt, der die Kinder, die ihm lieb sind, vorzeitig zu sich ruft, hielt sie für eine böswillige Erfindung, genauso wie die, daß mit dem Tod eines Kindes die Eltern gestraft werden sollten.
    In der Woche nach Ellys Tod war der Pfarrer zu Besuch gekommen, um eine Theorie über das Leiden darzulegen. Frances hatte ihm etwas zu trinken gegeben. Elizabeth hörte ihn schlürfen und schlucken, während er ihr weismachte, daß sie auserwählt sei: Gott stelle sie damit auf die Probe, daß er sie so viel Leid und so viele Verluste erfahren lasse. Sie müsse sich glücklich schätzen, daß sie sich diesen Prüfungen unterziehen dürfe. Mann fort, Baby tot, Töchterchen verunglückt. Er nahm ein Stück von dem Kuchen, den Frances gerade gebacken hatte, und kaute nachdenklich. Dann leckte er sich die Finger ab.
    »Frances«, hatte Elizabeth gesagt, »läßt du den Herrn Pfarrer jetzt bitte hinaus?«
    Es hatte sie für einen kurzen Moment gewaltig erleichtert, daß sie diesem salbadernden Orakel die Tür weisen konnte, doch als er sich getrollt hatte, hatte die Lähmung um so härter zugeschlagen. Wenn es keinen Gott gab, der über Tod und Leben entschied, wenn dem Sterben keinerlei Sinn zugrunde lag, regierte nur der Zufall. Sie war machtlos. Ein jeder war machtlos. Die Menschen ersannen Geschichten von Schicksal und dem Sinn des Leidens, um diese zum Wahnsinn treibende Ohnmacht nicht spüren zu müssen.
    Frances war schockiert gewesen, erschrocken über die ihr aufgezwungene Unhöflichkeit gegenüber dem Pfarrer, aber sie hatte, ohne zu zögern, getan, was Elizabeth ihr aufgetragen hatte.
    »Wie soll das jetzt weitergehen?« fragte sie. Elizabeth zuckte die Achseln.
    »Es geht nicht weiter. Ich höre nicht mehr auf den Mann. Er hält den Gottesdienst ab, das können wir nicht ändern. Aber wir brauchen nicht auf ihn zu hören.«
    Das auszusprechen hatte sie extreme Mühe gekostet, noch nie hatte sich ihr Körper so schwer und unbeweglich angefühlt. Dennoch tat es ihr gut, daß sie die schleimige Milde, die die meisten Menschen als Trost ansahen, durchschaut und zurückgewiesen hatte. Aber dann, aber dann. Frances fand, daß sie sich ein Weilchen hinlegen solle, einfach nach oben gehen, eine halbe Stunde ins Bett, ausruhen. Angst flackerte in ihr auf; sobald sie lag, ging es unbeherrschbar in ihrem Kopf rund, war sie den furchtbaren Bildern ausgesetzt, die ungefragt Besitz von ihr ergriffen, und überblickte nichts mehr.
    Nicht liegen, niemals.
    Resolut öffnete sie das Tor und betrat den Friedhof. An der Kirchenmauer hoben zwei Männer ein Grab aus. Sie nickte kurz und wandte das Gesicht ab. Ich sollte einen Schleier tragen, dachte sie, eine Maske, um mich vor den Blicken von Menschen zu schützen, die im normalen Leben stehen, die gedankenlos im Takt der Zeit laufen. Aber tue ich das denn nicht auch? Das Weihnachtsessen, das Buch, das Kind! Nicht, wenn ich hier bin, bei ihr. Dann ist mein Gesicht bei der Stunde ihres Todes zurückgeblieben. Ihr Zugrundegehen ist mir von den Wangen abzulesen, und niemand darf das sehen.
    »Wir schlafen in Hängematten; man kann jemandem einen Streich spielen und den Knoten aufmachen. Dann knallt er auf den Boden, wenn er hineinsteigen will!«
    Jamies Stimme war tiefer geworden. Verwundert betrachtete Elizabeth ihren ältesten Sohn – diese kurzen, kräftigen Arme, dieses Selbstvertrauen, der Stolz, mit dem er von seiner Ausbildung

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