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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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etwas anderes handelte, ein Opfer, um ihre Götter günstig zu stimmen oder so etwas. Es wurde mir nicht klar. Ich hatte den Eindruck, daß sie es nicht erzählen wollten, aus Scham oder weil es ein Geheimnis ist. Hodges hat eine Zeichnung davon gemacht, die werde ich dir zeigen.«
    »Essen sie auch Kinder? Und Babys?«
    »Nein«, sagte James, »ich habe nie gesehen, daß sie Kinder oder Babys aßen.«
    Nat beugte sich über seinen Teller. Elizabeth faltete die Hände über ihrem Bauch. Wir. In dieser Küche. Eine Familie, dachte sie, eine beschädigte, aber glückliche Familie beim Essen.

Zweiter Teil
    5
    Es sah nicht danach aus, daß es Weihnachten schneien würde. Die Tage waren kurz, die Wolken hingen tief, doch die Temperaturen erinnerten an September. Im Garten lugten die standfesten Blätter der Hasenglöckchen zwischen dem frisch-grünen Gras hervor, dazu verdammt, im Januar zu erfrieren. Mit Stroh abdecken? Elizabeth zuckte die Achseln. Das war vergebliche Liebesmüh, und warum sollte sie einen Garten schützen, wenn so viele andere Aufgaben danach schrien, erledigt zu werden?
    Jamie war nach Hause unterwegs, um hier seine Weihnachtsferien zu verbringen. Sie mußte eine Gans für das Weihnachtsessen bestellen, Rotkohl und Goldrenetten auslesen, ihre Kleider weiter machen lassen, damit sie bei ihrem wachsenden Bauchumfang noch atmen konnte. Und sie mußte mit James über Nathaniel sprechen.
    Der Junge schien sich an seine Geige zu klammern. Er begann schon zu spielen, bevor er morgens in die Schule ging, und Elizabeth mußte ihn zum Frühstücken zwingen. Dann saß er abwesend vor seinem Teller Brei und aß mit langen Zähnen, bis er den noch halb vollen Teller stehenließ und mit unvermittelter Eile zur Tür hinausstürmte. Sobald er zurück war, hörte sie die Geige wieder. Ein Weihnachtskonzert, sagte er, als sie fragte, was er denn übe. Hartland und er würden bei der Weihnachtsmesse ein Konzert aufführen, er nannte einen Komponisten mit italienischem Namen – Corelli? Vivaldi? Sie hatte es nicht behalten.
    »Möchtest du, daß wir zuhören kommen, ist dir das recht?« fragte sie. Er schaute weg und rührte in dem grauweißen Brei. Dumm, dachte sie. Das fragt man doch nicht. Wir gehen einfach, Heiligabend, James auch, wir gehen in die Kirche und hören Nat zu, ob er das nun möchte oder nicht. Jamie muß auch mitkommen. Da gibt es nichts zu überlegen.
    Sie erhob sich, die Hände im Kreuz, als müsse sie dabei nachhelfen, ihren Körper aufzurichten. Sie erkannte das Gefühl wieder: Noch bevor etwas zu sehen war, abgesehen von einer etwas umfangreicheren Taille, machte sich die Schwangerschaft durch ein inneres Erschlaffen bemerkbar. Bänder und Sehnen gaben nach, um dem neuen Kind Platz zu machen. Sie spürte es, eigentlich war es schmerzhaft, aber sie konnte es noch nicht Schmerz nennen.
    Nat blickte auf ihren Bauch. Er weiß es, dachte sie. Es schien, als wolle er etwas fragen, doch er hielt den Mund. Warum war es auf einmal so schwierig geworden, mit ihm zu reden? Es lag an ihr, es kam dadurch, daß sie nicht aufhören konnte zu denken und sich bei jeder Äußerung fragte, ob sie auch das Richtige sagte, ob sie nicht etwas anderes sagen mußte oder gar nichts. In den Umgang mit Nat hatte sich eine Befangenheit geschlichen, die sie nicht einordnen konnte. Sie streckte die Hand aus, um ihm über den Kopf zu streichen, doch er scheute vor ihr zurück, als komme sie ihm zu nahe. Wieder hatte er seinen Teller nicht geleert. Sollte sie ihm nachlaufen, war es das, was er im Grunde wollte? Und dann?
    Von oben waren die noch ungespannten Saiten der Geige zu hören. Er stimmte das Instrument ruhig und genau; ein Schlag ins Gesicht, ein Hinweis, daß sie Abstand zu wahren hatte. Er war erst elf, ein Kind noch, mit dem ging man doch nicht um wie mit einem erwachsenen Mann, einem Liebhaber. Sie mußte für Nat sorgen und ihm von den Schultern nehmen, was ihn beschwerte. Nicht zaudern, nicht grübeln und nicht verhandeln.
    Morgen würde Jamie kommen, mit Erzählungen von der Seefahrtsschule. Sie konnte sich gar nicht richtig darauf freuen, war sie doch besorgt, daß die Konfrontation für Nat eine einzige Bedrohung sein würde. Sie durfte nicht alles so schwarz sehen. Es wurde Weihnachten, sie war schwanger, sie würde essen, damit das Kind wuchs. Ende Mai würde es ausgetragen sein, hatte sie ausgerechnet. Wenn Nat aus dem Haus ging, würden James und sie mit einem neuen Kind zurückbleiben. Es kam ihr wie ein

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