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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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ungewöhnlichen, mitunter paradiesischen Situationen, in welche die Männer gerieten – die halbnackten Mädchen mit Tätowierungen auf dem Gesäß, die Stammesoberhäupter, die großherzig ihre Ehefrauen anboten, die wilden nächtlichen Tänze.
    Am meisten faszinierte sie jedoch das aus den Journalen zutage tretende Bild von James. Der Mann, den sie liebte, der ein Teil von ihr war, der Vater ihrer Kinder, wurde in dem Buch zu einem Unbekannten. Nicht zu einem Fremden, denn die Auswahl der beschriebenen Szenen und Themen, die Art der Betrachtung und des Nachdenkens und die stark ins Detail gehende Schreibweise kamen ihr vertraut vor. Dennoch sah sie einen wundersam anderen James durch die Geschichte gehen. Einen grausamen Mann, der Matrosen Schläge erteilen ließ und Rationen einbehielt, der seine Männer bis zur völligen Erschöpfung mit gefrorenen Tauen schuften ließ und der stets wieder Kurs auf den Südpol nahm, obwohl das gesamte Schiff nach den Tropen lechzte. Ein gepeinigter Mann, der in seinem Logbuch darüber jammerte, welches Elend den Inselbewohnern mit dem Besuch von Entdeckungsreisenden angetan wurde. Diese Menschen, die glücklich zu sein schienen und alles hatten, was sie zum Leben brauchten, griffen begierig nach Unsinnigem: gefütterten Jacken mit Tressen, Zinntellern und Jagdflinten. Die größten Gewissensbisse bereitete ihm die Tatsache, daß er offenbar nicht in der Lage war, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Bevor die Matrosen an Land gingen, ließ er sie in einer Reihe am Schiffsarzt vorbeidefilieren. Sie mußten die Hose runterlassen, damit der Doktor mit Spatel und Vergrößerungsglas ihre Genitalien inspizieren konnte. Die nicht beanstandeten Matrosen rannten jubelnd von Bord, aber nach zwei Wochen sah James, daß die Einheimischen verdächtig breitbeinig gingen und sich entsprechend vorsichtig hinsetzten.
    Elizabeth sah den freundlichen, interessierten Mann, der keine Furcht vor dem Fremden und Abstoßenden zu kennen schien. Er ließ sich an eine unbekannte Küste rudern, wo die Eingeborenen sie mit Steinen und Speeren in der Hand erwarteten. Er trat an den Strand, allein, er breitete die Arme aus, um zu zeigen, daß er keine Waffen hatte, und ging auf die Menschen zu, bis sie ihre Speere erhoben und zu schreien begannen. Dann setzte er sich auf den Boden. Er machte sich klein. Aus den Taschen und Ärmeln seiner Uniformjacke zog er Gegenstände, die er um sich herum in den Sand legte: ein Taschentuch, einige Glasperlen, Münzen, eine Zwiebel. Er wartete. Jenseits der Brandung wartete das Beiboot mit der atemlos zusehenden Besatzung.
    So gut wie immer löste sich schließlich jemand aus dem Kreis der Eingeborenen – der Neugierigste, der Mutigste, der Jüngste. James ließ ihn ruhig näher kommen, ohne sich zu erheben. Er reichte ihm die Gegenstände Stück für Stück und nahm sie wieder zurück, wenn der Mann kein Interesse daran hatte. Nach einiger Zeit hockte sich der Mann hin, und ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe. Dann beugte sich James vor und rieb die Nase an der des fremden, bemalten, stinkenden Mannes.
    Solche Passagen las Elizabeth mit prickelnden Wangen und heißen Ohren. Erst später wurde sie sich bewußt, daß es sie wütend machte: Ihr Mann hätte hier bei ihr auf dem Küchenfußboden sitzen müssen, zwischen seinen eigenen Kindern. Er war ein Vater für die Eingeborenen. Wie ein Vater sorgte er für seine Besatzung, er fütterte sie mit Sauerkraut, er bestrafte sie streng für Verstöße, und er vertiefte sich in ihre Geschichten und ihre Ambitionen. Sie dachte an Nat, der, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe hinaufschoß.
    Alles würde anders werden. Alles war jetzt anders. Diese Logbücher waren Historie, jetzt begann das häusliche Leben, in einer ungeteilten Gegenwart, in der sie beide anwesend bleiben würden.
    Anwesend war er, in dieser kahlen zweiten Herbsthälfte. Er kam jeden Tag in ihre Küche und erzählte von den Gesprächen, die er geführt hatte. Er bestand darauf, daß sie mit ihm zu Empfängen und Diners ging. Sie ließ sich ein Kleid mit einem Leibchen aus tahitianischem Gewebe schneidern. Die seltsam steifen Fasern schlossen ihre Brüste fest ein, und die tiefrote Farbe paßte gut zum schwarzen Taft des Rocks. Dennoch hatte sie das Empfinden, kein Recht auf diese Kleidung zu haben, und sie schämte sich, als sie das Kleid anprobierte, um es James zu zeigen. Hölzern und unwillig stand sie in der Mitte des Zimmers, sie

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