Letzte Reise
Arbeit im Dorfladen und verkaufte Zucker, Bohnen, Nägel und Seife. Ich füllte Papiertüten mit Trockenpflaumen, und wenn ich aufschaute, sah ich durch das Fenster die grauen Wellen der Nordsee. In Staithes geschieht rein gar nichts. In dem kleinen Hafen liegen Fischerboote. Nachts fahren sie aus, am Morgen kehren sie zurück. Die Fischer verkaufen den Fang auf dem schmalen Kai. Und das ist es.
An einem meiner ersten Arbeitstage tat sich etwas Sonderbares. Es ging auf sechs Uhr zu, mein Arbeitstag war beinahe herum, und es waren keine Kunden mehr im Laden. Auf einmal gab es draußen einen Menschenauflauf, der ganze Ort versammelte sich an der niedrigen Mauer längs des Wassers. Die See stand hoch, eine Welle schlug über die Mauer und noch eine; die Leute blieben stehen, ließen sich naß spritzen, standen mit den Füßen im schäumenden Wasser und klatschten und jauchzten bei jedem Brecher. Nach einer Viertelstunde begann sich die See zurückzuziehen, und die Leute trollten sich wieder in ihre Häuser. Das ist Staithes. Das Ablaufen der Flut ist der Höhepunkt des Tages.
Jenseits der Brandung sah ich schwere Schiffe vorüberfahren, mit Kohlen auf dem Weg von Newcastle nach London. Etwas dichter vor der Küste fuhren die Kähne, die Pisse zu den Alaungruben brachten. Das ganze Elend dieses Landstrichs ballt sich in diesem tristen Gewerbe. Tonnenweise schwelt und stinkt der mühsam herausgehackte Schiefer an den Klippen. Nach einem Jahr muß der Dreck dann in Laugentröge geschöpft und mit fauligem Seetang und menschlichem Urin vermischt werden. Wie das stinkt! Was am Ende herauskommt, ist Alaunkristall. Das wird zum Färben von Stoffen benutzt. Die Kähne, die an mir vorüberzogen, transportierten Urintonnen aus Londoner Wirtshäusern, denn die Küste ist so dünn besiedelt, daß dort nicht ausreichend gepißt wird.
Alles dort kam mir so armselig vor, so aussichtslos. Tagsüber die Erbsen und das Steigen der Flut, nachts die Erinnerungen an das düstere Haus im Hinterland. Mir brach schon der Schweiß aus, wenn ich nur daran dachte, daß ich Weihnachten nach Hause mußte. Dann kam die Nachricht, daß mein Bruder bei einem Misttransport vom Wagen gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte.«
Elizabeth blickte reglos vor sich hin. Bei den Strohgarben um die Palme lieferten sich zwei Elstern eine Verfolgungsjagd. Ihr böses, ungeduldiges Gezwitscher hallte von der Gartenmauer wider und drang laut und unsanft an ihre Ohren.
»Wenn ich daran zurückdenke, wird mir immer noch ganz elend. Aus Feigheit bin ich nicht nach Hause gefahren. Ich schrieb einen Brief, daß ich nicht wegkönne, weil so viel zu tun sei. Viel zu tun! In Staithes! Endlos blickte ich auf das graue Meer, stand da und wartete und spähte, als würde etwas geschehen, als würde irgend etwas oder irgend jemand kommen und mich aus dieser Lähmung erlösen. Das Fenster in meinem kleinen Zimmer über dem Laden war ganz milchig von dem Salz, das sich darauf abgesetzt hatte. Ich öffnete es weit. Es regnete, kein Mensch war auf der Straße. Dann kamen zwei Jungen. Sie machten ein Boot los, ruderten zum Hafen hinaus und hißten, als sie jenseits der Brandung waren, ein kleines Segel. Ich blickte dem Schiffchen nach und wußte plötzlich, daß die See meine Bestimmung sein würde. Hundertmal hatte ich ein Boot ausfahren sehen, aber dieses Mal bezog ich das plötzlich auf mich. Die See breitete sich vor mir aus und bedeutete Befreiung. Am nächsten Tag bin ich zu Fuß nach Whitby gelaufen und habe mich bei Walker angemeldet.«
Sie hatte die Hände auf die Knie gelegt und schaute auf die rote, von der Kälte angegriffene Haut. Schmerzen verspürte sie nicht. Die Elstern waren weggeflogen, und der Garten war ein stilles, weißes Zimmer, in dem nichts geschah.
»Jenseits dieses erbärmlichen Lebens an Land, mit dem ich nichts anzufangen wußte, dieses Unwohlseins, das ich nicht beheben, und dieser Armut, an der ich nichts ändern konnte, lag eine immense, weite Welt, die ich über die See erreichen konnte. Das klingt nach Flucht, und das war es auch. Aber nicht nur. Da war noch etwas anderes, das mir nur langsam klar wurde, am Ende meines Fluchtwegs. Beherrschung, Kontrolle, Überblick. Damit hat meine Sehnsucht nach dem Ausfahren zu tun. Die Welt liegt dort, die Inseln, die Kontinente, und wir kennen diese Welt und die möglichen Wege, die über sie hinwegfuhren, nur sehr lückenhaft. Ich entwickelte ein großes Bedürfnis, Länder und Fahrtrouten zu
Weitere Kostenlose Bücher