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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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kalten, schmerzenden Hände. Sie räusperte sich.
    »Hast du schon offiziell zugesagt?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ich muß Sandwich einen Brief schicken, um es zu bestätigen. Das habe ich noch nicht getan.«
    Es ist noch nicht verloren, dachte sie. Noch gibt es einen Moment Aufschub, noch brauche ich dem nicht wirklich ins Auge zu sehen. Erst nach dem Brief. Der Gedanke machte überhaupt keinen Unterschied und erleichterte sie nicht. Die Last seines Beschlusses blieb gleichermaßen schwer und vermittelte ihr das Gefühl, in dichtem Nebel umherzuirren. Mechanisch räumte sie den Tisch ab. James zauderte noch, die Küche zu verlassen. Geh weg, dachte sie, ich muß allein sein, ich kann nicht denken, wenn du mich ansiehst. Oder wollte sie, daß er vier Schritte machte und sie in die Arme nahm, sagte, es sei ein Mißverständnis, eine vorübergehende Geistesverwirrung gewesen – er denke nicht im Traum daran, sie zu verlassen und alle ausgesprochenen und stillschweigenden Vereinbarungen zu brechen? Beinahe glitt ihr der Gurkentopf aus den Händen. Warum ging er nicht in die Stube und sah sich seine Karten an? Sie stellte den letzten Teller in den Schrank und wischte die Hände an ihrem Rock ab. Als ob er nicht da wäre, dachte sie – tu so, als wäre er schon fort. Du weißt, wie das geht, na los.
    Er folgte ihr nicht nach oben. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu Nats Zimmer. Der Junge lag angezogen auf dem Bett. Elizabeth setzte sich ans Fußende und zog ihm die Schuhe aus. Dann nahm sie erst den einen und dann den anderen Fuß ihres Sohnes in ihre Hände und rieb ihn warm. Der Junge wimmerte leise, öffnete kurz die Augen, schien sie aber nicht zu sehen. Sie zog die schwere Tagesdecke unter ihm weg und deckte ihn damit zu. Er rollte sich mit dem Gesicht zur Wand zusammen; sie blieb sitzen, die Hand auf der Wölbung, unter der sie seine Füße vermutete. Die Vorhänge waren offen, und sie sah die Schneeflocken schweben, stetig, unaufhaltsam.
    Sie erwachte aus traumlosem Schlaf und fühlte, wie sich das Kind in ihr bewegte. Sie drückte auf ihren Bauch, und das Kind drückte zurück – mit einem Füßchen, einem Arm, dem kleinen Popo? Aufstehen. Das eiskalte Wasser im Gesicht ließ sie nach Luft schnappen.
    Sie kochte Brei für ihren Sohn und warf einen kritischen Blick auf seine Kleidung. Das Hemd war schmutzig und die Jacke zu eng. Während er aß, suchte sie in Kisten und Schränken nach Abgelegtem von Jamie und fand ein hübsches Leinenhemd und eine blaue Jacke, die kaum verschlissene Stellen aufwies. Sie erschrak, als sie sah, wie mager Nat war. Die Wirbel staken wie spitze Knospen aus seinem Rücken, und die Haut war straff über die Rippen gespannt. Wie ein kleines Kind hielt er die Arme hoch, damit sie das Hemd über seinen Kopf gleiten lassen konnte. Sie zog ihn mit zum Spiegel und half ihm mit der Jacke. Er lachte, als er sich sah, und warf mit schneidiger Kopfbewegung die Haare zurück.
    »Heute nachmittag gehen wir gemeinsam zum Schuhmacher«, sagte sie. »Du bekommst neue Stiefel. Iß jetzt deinen Brei, du mußt los.«
    Gehorsam löffelte er seinen Teller leer. »Schnee ist Regen«, sagte er. »Kalter Regen, der auf dem Boden liegenbleibt. Wo ist Papa?«
    »Bei der Arbeit. Er wählt Männer für die neue Expedition aus. Er hat viel zu tun. Kommst du nachher gleich aus der Schule nach Hause?«
    Nat nickte, schnappte sich seine Tasche von einer Kiste und sauste zur Tür. »Jacke zu!« sagte Elizabeth. »Setz deine Kappe auf und gib mir einen Kuß.« Sie bückte sich und fühlte die schmalen, nassen Kinderlippen auf ihrer Wange.
    Sie sah ihm nach. Wie ein unbesorgter Hirsch sprang er über die Straße, stets nach drei Schritten die Richtung ändernd.
    Sie brachte den Tag zu wie hinter einem düsteren Schleier, als wäre auch in ihrem Innern alles mit Schnee bedeckt. Das Mädchen kam und machte gewaltigen Lärm in der Waschküche, während Elizabeth das Zimmer aufräumte. Im Schrank stieß sie auf die rote Weste, die sie James hatte nähen wollen, den Zettel mit seinen Maßen, eine Rolle Silbergarn. Sie wickelte alles zusammen in ein Stück Papier und tat es in die große Kiste. Als sie sich aufrichtete, stand James in der Tür und schaute zu ihr herüber, schweigend. Sie nickte ihm zu, eine idiotische, völlig abwegige Reaktion, als wäre er ein entfernter Bekannter, dem sie auf der Straße begegnete. »Ich muß gehen«, sagte er.
    Der Schuhmacher kniete vor Nat und maß penibel den Umfang seiner

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