Letzte Reise
Füße. »Ich fertige sie auf Zuwachs«, sagte er und schaute mit in den Nacken gelegtem Kopf auf. »Aber nicht zu groß, denn dann fallen sie dir von den Füßen, wenn du rennst.« In der Werkstatt roch es nach Öl und Leder; Elizabeth hatte sich auf einen Hocker an der Tür gesetzt und studierte das Regalbrett mit abgetretenen, zu reparierenden Schuhen, die verstreut herumliegenden Werkzeuge, den gelichteten Scheitel des freundlichen Mannes.
Er zeigte Nat ein Stück Leder. »Fühl mal«, sagte er, »es ist weich und schmiegsam, aber sehr robust. Du mußt auch mal daran riechen.« Nat, der auf Socken in der Mitte des Raums stand, tat ohne Murren, was ihm gesagt wurde, und nickte beifällig, als er an dem Leder schnupperte.
»Zwei Wochen«, sagte der Schuhmacher, »in zwei Wochen bringe ich sie.« Er schaute fragend zu Elizabeth.
»Das ist gut«, sagte sie. »Vielleicht braucht mein Mann auch neue Stiefel, da könnt Ihr gleich seine Maße nehmen.«
Der Schuhmacher klopfte auf seine Westentasche. »Ich habe mein Maßband immer dabei. Zu Euren Diensten! Ich werde mein Bestes tun. Gnädige Frau, junger Herr, auf Wiedersehen!« Nat zwängte die Füße mit Mühe wieder in die alten Schuhe und gab dem Schuhmacher die Hand.
»Was wollen wir jetzt machen?« fragte Elizabeth, als sie wieder auf der Straße standen. Der Junge sah sie erstaunt an. »Gehen wir denn nicht nach Hause?«
»Wie du willst. Wozu hast du Lust?«
»Auf Oma«, sagte Nat. »Wir gehen zu Oma, Pfannkuchen essen.«
Elizabeth warf einen Blick in ihren Geldbeutel. Genug für eine Kutsche nach Barking. Sie faßte ihren Sohn bei der Hand.
Ihre Mutter schaute überrascht auf, als Elizabeth und Nathaniel die Taverne betraten. Sie kam hinter der Theke hervor und umarmte ihren Enkel. »Du hast Geburtstag gehabt«, sagte sie. »Elf Jahre alt geworden, nicht wahr? Ich habe noch etwas für dich, warte mal.« Aus der Kasse nahm sie eine Münze, die sie Nat in die Hand drückte. Erst danach wandte sie sich Elizabeth zu.
»Ist nicht so schlimm«, sagte sie. »Ich freu mich, wenn du kommst, ich werf dir nichts vor. Du bist mit einem berühmten Mann verheiratet, du hast viel zu tun, das weiß ich. Fühlst du es schon?«
Elizabeth nickte. Sie war sich auf einmal mehr als zuvor des Umfangs ihres schwangeren Bauches bewußt. Ihr Rock war eigentlich viel zu eng, und ihr Rücken schmerzte, sie wollte sitzen, ihre aufgequollenen Fesseln auf einen Hocker legen und jammern. In dem überheizten Raum roch es nach abgestandenem Bier. Sie löste ihren Rockbund und sank auf einen breiten Stuhl nieder. Nat schlüpfte in die Küche, sie hörte ihn mit ihrem Stiefvater schwatzen.
»Es läuft gut hier«, sagte ihre Mutter. »Genügend Kundschaft, und ich habe eine neue Hilfe für die Abende, an denen es voll ist. Aber meine Zähne machen mir zu schaffen. Sie fallen aus. Ich kann nur noch Suppe essen und Brei.« Die alte Frau riß den Mund weit auf und zeigte ihrer Tochter ein Trümmerfeld aus grauen Zahnstümpfen mit blaßrosa Lücken dazwischen. Widerwillig spähte Elizabeth in den Mund ihrer Mutter.
»Ich versuche es mit Gewürznelkenöl. Und trinke viel Gin, dann spüre ich die Schmerzen weniger. Was für ein lieber Junge, der Nat. Muß er jetzt auch schon auf das Institut? Na ja, sie müssen ja etwas lernen, die Kinder, damit kann man gar nicht früh genug anfangen. Du hast ja auch schon früh über den Kassenbüchern gesessen, was?«
Ich muß diesen Strom zum Stillstand bringen, dachte sie, ließ das Geschnatter aber ohnmächtig über sich ergehen. Erst als ihre Mutter kurz pausierte, um sich noch etwas einzuschenken, tat sich eine Lücke zwischen den Sätzen auf.
»Mutter«, sagte sie. Die Frau sah sie an, freundlich, abwartend. »Er geht wieder. Nat weiß es noch nicht.« Sie legte den Finger warnend an die Lippen. »Er hatte versprochen, zu Hause zu bleiben, aber er geht wieder.« Sie spürte das Brennen von Tränen hinter ihren Augen, so kindisch, so vorhersehbar, daß es sie wütend machte.
Die alte Frau kam mit schleppendem Schritt näher, die Flasche in der Hand. Sie setzte sich zu Elizabeth und nahm nachdenklich einen Schluck aus ihrem Glas. »Wird er viel verdienen?«
Elizabeth nickte. »Mit Sicherheit. Und obendrein bekommt er ein riesiges Preisgeld, wenn er den Auftrag gut vollbringt. Aber er verdient auch jetzt genug.« Ihre Stimme klang schwach, unsicher, sie hörte es selbst. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel, schneuzte sich die Nase und wischte
Weitere Kostenlose Bücher