Letzte Reise
»Er ist nicht da!« schrie Nat aus seinem Zimmer. Da zog sie die Tür wieder zu und begann, vor dem Haus auf und ab zu gehen. Sie fühlte Schweiß auf ihrem Rücken prickeln, ihre Wangen glühten. Ein Gespräch am Kamin, in der stickigen Stube? Ausgeschlossen. Nicht einmal der weite Himmel über dem Fluß erschien ihr groß genug für ihre Erregtheit und Wut. Gehen, umdrehen, gehen; sie registrierte kaum, daß sie wartete.
Sie sah ihn sofort, als er um die Ecke kam. Er schaute sie zögernd an, wollte hinein, ins warme Haus. Sie schüttelte den Kopf, gemessen, beherrscht, faßte seinen Arm und führte ihn um das Haus herum in den Garten. Auf die Bank unter der kahlen Quitte setzte sie sich, nachdem sie den Schnee weggefegt hatte. Mit einer schnellen Geste lud sie ihn ein, neben ihr Platz zu nehmen. Vor ihnen stand der Gartentisch, gekrönt mit einer prallen Ladung Schnee, in der die Vögel ihre zarten Spuren gezogen hatten wie Bleistiftpfeile auf einer Seekarte.
»Du wirst dich erkälten«, sagte er rauh, »warum gehen wir nicht hinein?« Sie sah ihn an und schwieg. Arme verschränkt, Füße im Schnee. Aus dem Haus war entfernt eine Tonleiter zu hören, die höher und höher hinaufstieg. Elizabeth wartete.
»Ich werde es erklären«, sagte er endlich. »Seit jenem Abend denke ich darüber nach. Warum habe ich es gesagt? Das geht mir unaufhörlich im Kopf herum. Ist es die Belohnung? Zwanzigtausend Pfund. Das würde viel ausmachen. Ein Haus in der Stadt mit Empfangshalle, Kronleuchtern, einem Stall für unsere eigenen Kutschen. Einen Abend wird bei Banks empfangen, am nächsten ist ein Ball bei Cook. Will ich das? Vielleicht. Aber das ist nicht der Grund dafür, daß ich fahre. Dieser Garten paßt besser zu mir, auch wenn mir die Mißgunst gegen jene, die von Geburt aus in größeren Gärten zu Hause sind, nicht fremd ist.«
Mit den Stiefeln drehte er Kreise in den Schnee. Weit weg spielte die Geige nahezu stillstehende Zusammenklänge, in denen sich hin und wieder sachte ein Ton verschob.
»Ansehen. Respekt. Auf dem Schiff führe ich das Regiment. Wo immer wir an Land gehen, betrachtet man mich als Herrscher. Das gefällt mir, keine Frage. Das Unbehagen, das mich hier manchmal befällt, lege ich ab, wenn ich an Bord gehe. Es ist schwer, diese Rolle einem anderen zu gönnen. Gierke würde ich sie ja noch überlassen, obwohl ich Zweifel habe, was seine wissenschaftliche Objektivität betrifft. Er hat ein Gefühl für die Atmosphäre an Bord, er ist freundlich und spielt sich nicht auf. Wenn sie John Gore ins Gespräch bringen, muß ich an mich halten. Der hat mich auf der Endeavour mächtig geärgert. Er brüstete sich mit seiner Tropenerfahrung und versuchte, sich meinem Befehl zu entziehen. Pedantisch ist er auch. Dennoch, vielleicht könnte er auf seine Art ein guter Kapitän werden. Irgendwann werde ich das Kommando einem anderen überlassen müssen, das weiß ich. Ich werde mich an Land einleben müssen, das weiß ich auch. Wenn nicht jetzt, dann in einigen Jahren. Daß mir das schwerfällt, spielt gewiß eine Rolle, aber es war nicht ausschlaggebend.«
Keine Geigenklänge mehr. Totenstill war es in dem verschneiten Garten, als hielten Bäume und Sträucher den Atem an.
»Nach meiner Geburt bekam meine Mutter noch vier Kinder, die allesamt starben. Sie verwandelte sich von einer fröhlichen, unternehmungslustigen Frau in einen grauen Schatten, der sich mühsam durchs Haus schleppte. Ich versuchte, sie aufzuheitern, ich dachte, es sei meine Schuld, daß sie solchen Kummer hatte. John, mein großer Bruder, war den ganzen Tag weg, er arbeitete mit Vater auf dem Land. Ich blieb zu Hause und kämpfte gegen die erstickende Trübseligkeit. Und verlor. Ich konnte sie nicht retten. Daß ich zur Schule durfte, war eine Befreiung. Skottowe, der Gutsherr, bei dem Vater arbeitete, versprach sich wohl etwas von mir und bezahlte das Schulgeld. Ich glaube, daß Mutter eine Rolle dabei spielte, und habe eine vage Erinnerung, daß ich die beiden zusammen im Schuppen stehen sah, heftig miteinander flüsternd, zu nah beieinander – vielleicht bilde ich es mir ein. Ich war noch klein.
Buchstaben und Zahlen wiesen mir den Weg aus dem düsteren Haus. Als ich die Schule beendet hatte, brachte Skottowe mich nach Staithes. Ein unglaublicher Anblick, wenn du das zum erstenmal siehst. Der Ort liegt auf einem schmalen Grat zu Füßen hoher Klippen, die Häuser kleben allesamt an dem steilen Hang, mit Blick aufs Meer. Ich bekam
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