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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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entdecken und so zu beschreiben, daß die Generationen nach mir in meine Fußspuren treten könnten.
    Ich möchte ein Netz von Wasserwegen über die Erde spannen, damit es keine unbekannten Regionen mehr gibt. Ich muß ausfahren, weil dort die Welt ist.«
    Er deutete vage in Richtung Fluß. Es dämmerte, und der Frost schien zuzunehmen. Ein Zweig knackte; aus dem bleigrauen Himmel begannen glitzernde kleine Schneekristalle zu fallen.
    »Das ist es, Elizabeth. Besser kann ich es nicht erklären. Es hat nichts mit dir zu tun. Du bist großartig, die beste Frau, für die ich mich je hätte entscheiden können. Es geht nicht darum, daß ich von dir fortlaufen wollte, viel lieber würde ich immer bei dir bleiben, bei dir am Tisch sitzen, neben dir gehen. Aber die See ist dort. Ich muß. Nicht, weil es ehrenvoll ist, nicht, weil der König darum bittet, sondern weil es meine Bestimmung ist.«
    Die Schneeflocken wurden schwerer und größer. Sie rieselten ihnen auf Kopf, Schultern und Schenkel herab. Es war dunkel geworden.
    »Du mußt das verstehen. Ich tue nichts gegen dich. Du hast nichts damit zu tun. Da ist etwas in mir, was ich nicht negieren kann. Ich spüre es, sobald ich über die Laufplanke gehe. Wenn ich an Deck stehe und über die See blicke, wenn ich fühle, wie sich das Schiff unter mir bewegt, und höre, wie die Stage gegen den Mast schlagen, werde ich ein anderer. Dann werde ich ich selbst.«
    Im Lichtkegel einer fernen Straßenlaterne tanzten die Flocken lautlos durcheinander. Elizabeths Haube wurde schwer vom Schnee. Ein kalter Klumpen rutschte am Halstuch entlang in ihren Nacken. Sie rührte sich nicht.
    Die Küchentür flog auf.
    »Warum sitzt ihr da? Warum seid ihr nicht drinnen?«
    Nats Stimme klang schrill. Er ist ein Kind, dachte sie, er weiß sich keinen Rat. Das Herdfeuer erlischt, die Küche kühlt aus, er hat Hunger, er ist allein. Mit einem Mal spürte sie die Kälte und begann, mit den Zähnen zu klappern. Mit den erstarrten Händen stemmte sie sich von der Gartenbank hoch. James' Hut war schneebedeckt. Auch er erhob sich. Sie standen steif nebeneinander und klopften sich den Schnee von der Kleidung. Er schlug seinen Hut gegen die Rückenlehne der Bank und wischte danach den Schnee von ihrer Haube. Mit unendlich verlangsamten Bewegungen gingen sie in die Küche, ohne einander anzusehen.
    Sie zog die durchweichten Schuhe aus und schauderte. James war mit Holzscheiten am Herd zugange. Langsam schleppte sie sich die Treppe hinauf. Den nassen Rock ausziehen. Trockene Strümpfe suchen, ein anderes Kleid. Sie hängte die feuchten Kleider sorgfältig auf und ging gleich, als sie damit fertig war, nach unten. Es war Abend, ein normaler Abend, es mußte gegessen werden.
    Nat hatte Brot auf den Tisch gestellt, Teller, ein Stück Käse und eine Schale mit aufgeschnittenem Schinken, alles aufs Geratewohl durcheinander. Sie sah Krümel und Käsekanten und einen irdenen Topf mit Gewürzgurken und dachte an den Garten, solche hübschen Pflanzen, diese kleinen Gurken, und was für ein Fest es war, sie mit Salz und Essig einzumachen, etwas Dill hinzu, das würde sie in diesem Jahr wieder tun – wo ist er eigentlich? Eine angebissene Schnitte Brot lag auf der Anrichte, aber Nat war nirgendwo zu entdecken. James kam mit einem Krug Bier aus der Waschküche. Sie griff zum Brotmesser und begann zu schneiden.
    Dann saßen sie sich gegenüber. Elizabeths erstarrte Kiefergelenke waren noch nicht so weit, und so schaute sie zu, wie er vom Schinken, vom Käse, von den knackigen Gürkchen nahm. Ich muß etwas sagen, dachte sie, aber ich bin so müde, daß es einfach nicht geht. Noch nie bin ich so erschöpft gewesen, nie. Nicht nach einer Niederkunft, nicht nach einem Abschied, nicht nach einem Begräbnis. Noch nie so müde wie nach diesem Gartengespräch. Ich empfinde es schon als schwere Aufgabe, hier sitzen zu bleiben, zu atmen und den Kopf geradezuhalten. Sie sah, daß sie am ganzen Körper zitterte, und konnte es nicht verhindern. Dann nicht, dachte sie, dann zittre ich eben.
    Sie hörte James kauen, schlucken, Bier trinken. Der Schnee schmolz von seinen Stiefeln, die Feuchtigkeit drang in die Fliesen ein und machte dunkle Flecken. Der Herd bullerte, James hatte das Feuer zum Glück wieder anbekommen. Wo ist Nat, wir müssen jetzt erst mal an Nat denken. Ein Kind, das selbst für sein Essen sorgen muß, weil seine Eltern unbeweglich im Schnee sitzen, das geht nicht, das darf nicht wieder geschehen. Sie bewegte die

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