Letzte Reise
Hinrichtungen waren ihm zutiefst zuwider. Als Kapitän würde er mittels Überredung und Argumenten erzwingen, was er wollte, davon war sie immer überzeugt gewesen. Bis heute nachmittag. Die Marine handhabte ein strenges System von Leibstrafen. Matrosen wurden mit verstärkten Peitschen blutig geschlagen, in der brennenden Sonne an den Mast gebunden, man schnitt ihnen die Ohren ab. Sie wußte das, sie hatte die Listen gesehen, auf denen die Strafen fein säuberlich neben die dazugehörigen Missetaten geschrieben worden waren. Ob James auch solche Strafen erteilte? Ausführen ließ? Dabei zusah?
Hin und wieder hatte sie im Journal von Bestrafungen gelesen. So mußte ein ergriffener Deserteur an den Mast, und jemand, der absichtlich auf einen Eingeborenen geschossen hatte, bekam Peitschenhiebe. Es klang angemessen. Aber stand denn im Journal auch alles, was geschah?
Er schlug die Zähne in das Fleisch und nagte die schmalen Rippen ab. Vielleicht ließ er ja alles weg, was ihn in ein schlechtes Licht rücken könnte, und wütete wie ein Tier, ohne daß etwas darüber aufgezeichnet wurde. Er konnte böse werden, das wußte sie. Das zwanghafte Stehlen der Insulaner brachte ihn zur Weißglut. Alles nahmen sie mit, sie zogen die Nägel aus dem Schiff und ließen Teller, Knöpfe und Zirkel unter ihren Umhängen verschwinden. Über den Diebstahl persönlicher Habseligkeiten regte er sich nicht weiter auf, doch die Entwendung von Staatsbesitz war ihm unerträglich. Insulaner, die die astronomischen Instrumente mitgehen lassen wollten, sich mit dem Quadranten oder dem Fernrohr davonmachten oder gar den heiligen Harrison-Chronometer zu demontieren versuchten, würde er bestrafen. Mit der Peitsche. Aber nicht blutig schlagen lassen, das sicher nicht.
Die halsstarrige Weigerung, Lebensmittel zu verzehren, die seiner Meinung nach heilsam waren, erregte ebenfalls seine Wut. Gesundes, aus Tannenspitzen gebrautes Bier sollten sie trinken, und wenn sie das nicht wollten, zog er die Rumrationen ein. Pädagogische Maßregeln. Politik. Was sie im Garten gesehen hatte, war etwas anderes. Sie hatte einen Mann gesehen, der für einen Moment völlig außer sich war, unbeherrscht, wild. Die Erinnerung ließ sich nicht mit dem ruhigen, genüßlich essenden Mann am Tisch in Einklang bringen. Sie schob ihm die Schüssel mit den eingemachten Preiselbeeren hin.
»Laß uns einen kleinen Ausflug machen«, sagte er. »Das Wetter wird noch einige Tage schön bleiben. Wir könnten morgen nach Kew fahren und uns den Pflanzengarten ansehen. Das Schiff ist mehr oder weniger fertig, ich brauche nicht zur Werft, und ich möchte gern mal raus. Ich bitte um ein Boot, sie können uns hinrudern, dann brauchst du nicht in so einem holpernden Wagen zu sitzen.«
Ja, wieso eigentlich nicht, dachte sie. Über den Fluß gleiten, Sonne auf dem Wasser, Geschrei von Möwen und Säbelschnablern über ihren Köpfen – wieso nicht?
Das Boot lag an dem kleinen Steg am Ende des Pfads zwischen den Gärten. Sechs Ruderer in roten Jacken standen dort und erwarteten sie. Elizabeth stieg ein, einen Moment verunsichert durch die schaukelnde Bewegung des Bootes. »Beine auseinander«, sagte James. »Mitbewegen. Lockere Knie. Setz dich mal hierhin, auf das Kissen.«
Er ließ sie auf der Bank hinten im Boot Platz nehmen, blieb selbst aber noch stehen, während die Ruderer das Boot abstießen und es in Bewegung setzten. Dann ließ er sich neben ihr nieder.
»So fahren wir immer an Land«, sagte er. »Ich gehe in einer Bucht vor Anker, wir lassen das Beiboot hinunter und rudern an den Strand. Genau wie jetzt.«
Geschwind glitt das Boot an Wiesen und Wäldern entlang, unter der Brücke hindurch, am Schloß vorbei, auf die Kuppeln und Kirchtürme Londons zu.
»Flut«, sagte James, »wir fahren mit dem Strom. Aber sie rudern auch gut. Es geht kaum Wind.«
Wie weiß der Ruderer, wohin er fährt, sinnierte Elizabeth. Die Männer saßen mit dem Rücken zur Bootsspitze und zogen sich verkehrt herum über den Fluß. Sie schauten vielleicht aus dem Augenwinkel ans Ufer, sie spürten vielleicht an den subtilen Temperaturunterschieden der Luft, ob sie offenem Wasser oder Land entgegenfuhren. Geheimnisse der Schiffahrt, von denen sie nichts wußte. Sie schlug die Augen nieder, um sich nicht von den sechs Ruderern angestarrt zu fühlen. Das Wasser hatte eine graubraune Farbe; wieder und wieder verschwanden die Ruderblätter darin, wurden unsichtbar und tauchten am Ende des Schlages
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