Letzte Reise
daß sie über alle Regeln erhaben sind, daß sie mehr wert sind als andere. Genug davon. Nie wieder begebe ich mich mit solchen Leuten auf die Reise – Philosophen, Professoren oder wie sie sich sonst nennen mögen, wenn sie bei mir an Bord kommen, werfe ich sie gnadenlos über die Reling. Wichtigtuer. Den Buckel sollen sie mir runterrutschen! Zum Teufel mit ihnen allen, zum Teufel!«
Starr vor Schreck, staunte der junge Mann seinen Kapitän an, der auf dem Rasen einen wahren Tobsuchtstanz vollführte. Einen Augenblick später blieb James stehen, zog ein Taschentuch aus seinem Ärmel und wischte sich das Gesicht ab. Dann nahm er das Gespräch in bedächtigem Ton wieder auf, als ob nichts geschehen wäre; sie hörte ihn einen gewissen Webber erwähnen, einen jungen Landschaftsmaler, der mitwolle. Der Besucher äußerte zögernd seine Bewunderung für den Künstler, wohl fürchtend, daß seine Worte falsch ankommen könnten. William Anderson wurde genannt, der Schiffsarzt, der inzwischen so versiert war in der Sprache der Insulaner; seine Assistenten Samwell, der musikalische Schürzenjäger, und Ellis, der mit wundersamer Leichtigkeit Vögel malen konnte. Keine Wissenschaftler, sondern gewöhnliche Besatzungsmitglieder, Gärtner, Zimmerleute und Wundärzte, die die Wissenschaft neben ihrer Arbeit her aus Liebhaberei pflegten. So wollte er es also.
Sie sah den jungen Mann sich mit schüchternem Händedruck verabschieden, den Hut in der anderen Hand. James setzte sich unter die Quitte und seufzte hörbar.
Elizabeth blieb ihrerseits auf dem Bänkchen hinter dem Schlafzimmervorhang sitzen. Die Heftigkeit, deren Zeugin sie geworden war, erstaunte sie eigentlich nicht; es paßte, daß er sich einem Fremden gegenüber so gehenließ. Zu Hause führte er sich nicht so auf. Zu Hause beherrschte er sich, genau wie sie. Zu Hause hatten sie sich vollkommen im Griff.
Sie blickte zur Seite, auf das große Bett. Dort hatte sie gelegen, kurz nach dem Tod Ellys, und nicht mehr ein noch aus gewußt. Da waren unregelmäßige Schritte auf der Treppe laut geworden, sachte war die Tür aufgegangen, und Palliser hatte sich zu ihr auf die Bettkante gesetzt. Sie hatte ihn nicht gesehen, aber gespürt, wie sich die Matratze senkte, und seinen Geruch aufgefangen. Pfeifentabak, Salz. Sie hatte in das Kissen gebrüllt, sich vor Schmerz gewunden, der Speichel war ihr aus dem Mund gelaufen vor Elend. Solange er dort saß, konnte sie ganz in ihre Verzweiflung eintauchen, ohne befürchten zumüssen, daß sie darin ertrank. Er tat nahezu gar nichts, hatte nur die Hand leicht auf ihren Rücken gelegt und flüsterte dann und wann ein Wort. Vergebens, hatte er gesagt, alles umsonst. Zerstört, hatte er gesagt, zerstörte Zukunft, verlorene Hoffnung. Ach, Kindchen. Schließlich hatte sie sich beruhigt, und er hatte sie mit nach unten genommen. Seltsam, daß sie sich nie vor ihm geschämt hatte. Es war einfach geschehen.
Schämte James sich für seinen Wutausbruch? Bei Tisch war nichts davon zu bemerken. Sie aßen Lammfleisch, der Fleischer hatte sie mit einem frühen Lamm überrascht, das sie mit Zwiebeln und Wintermöhren hatte zubereiten lassen, denn Frühlingsgemüse gab es noch nicht. Nat nagte an einem Wirbelknochen, und James zerlegte andächtig ein Rippenstück. Unter den tief hereinfallenden letzten Strahlen der Frühlingssonne sah alles so friedlich aus.
»Wer war das heute nachmittag?« fragte sie beiläufig.
James schaute auf. »James King. Hat auch seine Ausbildung unter Palliser gemacht. Sehr begabter Junge, hat einige Jahre pausiert, um in Paris zu studieren. Paris! Sohn eines Pfarrers. Aber er hat Astronomie studiert. Sehr nützlich, er ist genau der, den ich brauchen kann. Sympathischer, ruhiger junger Mann. Und ein guter Offizier. Macht verläßliche Berichte.«
»War es ein nettes Gespräch?« Weiter konnte sie doch nicht gehen.
»Ja«, sagte James. »Köstlich, dieses Lamm. Ein ausgezeichnetes Mahl, Elizabeth. Schmeckt es dir auch, Nat?«
Nat nickte und aß weiter. War er während des Wutanfalls seines Vaters zu Hause gewesen? Wahrscheinlich nicht, er hockte wieder jeden Nachmittag bei Hartland, der ihm im Anschluß an die Geigenstunde beizubringen versuchte, wie man einer Trompete Töne entlockte.
Ob er an Bord grausam war? Ob er in seiner Wut unangemessene Strafen verhängte? Sie hatte ihn immer als Inbild der Ruhe und Gerechtigkeit betrachtet. Er sah einen anderen nicht gern leiden, und öffentliche Folter und
Weitere Kostenlose Bücher