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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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durchgeführt werden; sonntags sind auf der ganzen Länge des Strandes vielleicht hundert Spiele im Gange. Alle sehen sich mit einem verheerenden Übel konfrontiert: dem Meer. Jeder, der den Ball direkt ins Wasser schlägt, ist aus dem Spiel – eine Regel, die am gesamten Strand gilt. Ein guter, ehrlicher Drehschlag als Antwort auf einen kurz geschlagenen Ball – und der Schlagmann hat sich gerade selbst ins Aus gespielt. Um hier zu überleben, müssen die klassischen Krickettugenden ignoriert werden. Unorthodoxes, Hauptsache wendig und flink, siegt.
    «Eine Million Leute spielen hier an diesem Strand. Spielt mit Eleganz. Hebt euch heraus aus der Masse!», rief Mrs Rego.
    Sie stand in ihrem grauen Mantel am Wicket, Schiedsrichter, Kommentator und Trainer des laufenden Spiels in einer Person.
    Timothy war am Schlag; Kumar, der größte der Stammspieler am tamilischen Tempel, nahm Anlauf, um den Ball zu werfen.
    Mary, die einzige Zuschauerin und einzige Cheerleaderin, saß im Sand, wandte sich einen Moment lang ab und blickte zum Ufer hinüber.
    Es war Ebbe, und das Meer hatte sich weit von der üblichen Strandlinie zurückgezogen und ein spiegelglattes, sumpfiges Niemandsland hinterlassen. Zwei beinahe nackte Jungen, deren Schatten auf den nassen Sand fiel, rannten durch diesen Schlick; sie hüpften in die Wellen und bespritzten einander. Das Sonnenlicht ließ ihre dunklen Körper schwarz glänzen, als wären sie mit Öl überzogen; ekstatisch kugelten sie sich im Wasser herum und waren kaum noch bei Sinnen.
    Mary sah eine bekannte Gestalt am Wassersaum entlanggehen. Die Hosenbeine des Mannes waren hochgerollt, und er trug seine Schuhe über der Schulter, wo sie sein Hemd beschmutzten.
    Sie winkte.
    «Mr Ajwani.»
    «Mary! Nett, dich hier zu treffen.»
    Er setzte sich neben sie.
    «Bist du hier, um deinem Sohn beim Kricketspielen zuzuschauen?»
    «Ja, Sir. Ich mag es zwar nicht, wenn er seine Zeit mit Kricket verschwendet, aber Madam, ich meine Mrs Rego, hat darauf bestanden, dass er mitmacht.»
    Ajwani nickte.
    «Wie geht’s deiner Wohnung am
nala?
Wieder neue Drohungen, dass sie alles abreißen?»
    «Nein, Sir. Mein Zuhause steht. Ich habe Arbeit in einem der Häuser am Bahnhof gefunden. Ein Ultimex-Gebäude. Die Bezahlung ist besser als in Vishram, Sir. Und ich habe eine hübsche blaue Uniform bekommen.»
    Die beiden duckten sich. Der rote Ball hatte Ajwanis Nase nur knapp verfehlt, flog über den spiegelglatten Sand und knallte ins Meer.
    «Timothy ist draußen!», rief Mrs Rego.
    Sie sah Ajwani neben Mary sitzen.
    Er sah die Feindseligkeit in ihren Augen – sie hatten seit jener Nacht nicht mehr miteinander gesprochen –, und sofort wusste er, dass sie «mit drinsteckte».
    «Lassen Sie mich hierbleiben, Mrs Rego», sagte er. «Das ist eine der Spielregeln am Juhu-Strand: Du kannst einem Fremden nicht verbieten, dein Spiel anzuschauen.»
    Mrs Rego seufzte und suchte nach dem Ball.
    Die beiden Jungen, die im Wasser herumgetollt hatten, rannten auf den Ball zu; unter dem Jubel der Kricketspieler kam er in hohemroten Bogen zurückgeflogen. Oben am Himmel kreuzte ein Flugzeug die Flugbahn des Balls – und die Kricketspieler jubelten ausdauernd ein zweites Mal.
    Das Flugzeug reflektierte das Licht der untergehenden Sonne; es sah strahlend und wohlvertraut aus, bevor es allmählich über dem Meer verschwand.
    Das Spiel ging weiter. Mrs Rego gab den Jungen «Tipps», wie sie «elegant» schlagen konnten. Ajwani und Mary feuerten gänzlich unparteiisch alle Schlagmänner an.
    Die untergehende Sonne lockte noch mehr Menschen an. Der Geruch der Menschen überlagerte den des Meers. Verkäufer ließen grüne und gelbe Leuchtdrähte in der Dämmerung herumwirbeln, um die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen. Bunte Fächer wurden auf langen Holzrahmen arrangiert und schwangen im Seewind, grüne Plastiksoldaten robbten durch den Sand, und mechanische Frösche hüpften quakend herum.
    Kleine Männer standen da, und schwarze Tabletts mit geschälten Erdnüssen, von Kohlen warm gehalten, hingen ihnen um den Hals; Tische mit Kokosnüssen und Chutney wurden unter Sonnenschirmen aufgestellt; Jungen badeten in Unterwäsche, und auch Musliminnen in durchweichten schwarzen Burkas sprangen kurz ins Wasser. Blinkende Apparate verrieten einem für ein paar Rupien Körpergewicht und Schicksal.
    Das Kricketspiel hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Dharmendar und Vijay, die versprochen hatten, Timothy bloß am Strand einzugraben,

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