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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Radiologen.
    Eine derartige Vertraulichkeit legen Ärzte nur bei chronisch Kranken an den Tag.
    Er lag mit dem Gesicht nach unten, die Fettfalten von Brust und Bauch an kalte, harte Kissen gepresst. Ein Röntgenapparat bewegte sich über ihm und machte Aufnahmen von seinem Hinterkopf.
    Der Apparat blieb stehen, und als der Radiologe in einen anderen Raum ging, brummte er: «Ich weiß nicht, ob die Bilder was werden, Sie haben sich nämlich bewegt …»
    Shah, der ohne Hemd auf einem dreibeinigen Hocker saß und wartete, kam sich wie ein Schuljunge vor.
    «Tut mir leid. Die Bilder sind nichts geworden. Sie können sich fünf Minuten nach draußen setzen.»
    Er ging in das Wartezimmer des Breach Candy Hospital für externe Patienten. Rosie wartete in ihrem allerkürzesten Minirock auf ihn.
    «Onkel.» Sie klatschte in die Hände. «Mein Onkel.»
    Ihre Nase war immer noch zerschrammt; ein bleicher Hautstreifen zeigte, wo tagelang das Pflaster geklebt hatte.
    «Ich hätte nicht gedacht, dass du kommen würdest, Rosie», sagte er, als er sich neben sie setzte. «Hätte ich wirklich nicht gedacht.»
    «Natürlich würde ich dich im Krankenhaus nicht allein lassen, Onkel.» Sie senkte die Stimme. «Ist der Rock kurz genug?»
    Die anderen Patienten, die vor dem Sprechzimmer des Radiologen warteten, starrten den fetten Mann an, der von einem wohlgerundeten Mädchen in spärlicher Bekleidung umarmt wurde. Shah wusste, dass sie ihn anstarrten, und es war ihm scheißegal. Er hatte schon als Gesunder keine Scham gekannt, und das würde er auch als Kranker so halten.
    «Er wird das ganze Krankenhaus heißmachen.»
    «Das ist auch meine Absicht, Onkel.» Sie zwinkerte ihm zu. «Sie stellen hier die Klimaanlage so kalt ein.»
    Er flüsterte ihr ins Ohr.
    «Du kannst nach Hause gehen, Rosie. Ein Krankenhaus ist kein Ort für ein Mädchen wie dich.»
    Rosie bemühte sich gar nicht erst zu flüstern.
    «Mein Vater war der Sohn einer ersten Ehefrau. Das habe ich dir nie erzählt, oder, Onkel? Seine Mutter starb an Brustkrebs, als er acht Jahre alt war. Dieses Land ist voller Söhne von ersten Ehefrauen, die Versager sind. Ich bin gerne mit einem Siegertypen zusammen.»
    Sie küsste ihn auf die Wange.
    Die Feuchtigkeit blieb auf Shahs Wange zurück, und er erkannte, was sie war: Ehrgeiz. Dieses Mädchen wollte nicht nur einen Friseursalon, sie wollte alles: sein ganzes Geld, seine Häuser. Die Ehe.
    Er wollte loslachen – ein Mädchen, das er aus dem Gefängnis geholt hatte! –, und dann fiel ihm die Geschichte ein, die Rosie ihm erzählt hatte. Die Schauspielerin und der Panjabi-Produzent. «Ihre Blowjobs sind seit Jahrzehnten legendär.»
    Nichts im Leben ist nichtig, nichts ist unehrenhaft. Ein Mann findet vielleicht nicht im heiligen Stand der Ehe die Liebe, dafür aber bei einer Frau, mit der er auf seinem Bürosofa gevögelt hat, so, wie ein Kern, den irgendjemand neben dem Fallrohr einer Regenrinne ausgespuckt hat, zu einem großen Banyanbaum emporwachsen kann.
    «Mr Shah?» Ein gekrümmter Finger rief ihn wieder in den Röntgenraum.
    Du täuschst mich nicht,
dachte Shah, als der Röntgenapparat wieder seine Arbeit verrichtete.
Du wirst niemanden retten.
Das war lediglich die Bürokratie der Auslöschung, die erste Runde des Papierkrams. Die Kälte des Metallschragens durchdrang die mit Butter aufgepäppelten Fettschichten; ihn fröstelte.
    «Soll ich die Augen offenhalten oder schließen?»
    «Das ist egal. Entspannen Sie sich einfach.»
    «Dann mache ich sie zu.»
    «Wie Sie wollen. Entspannen Sie sich.»
    Auf seinen Händen konnte er immer noch die Wärme von RosiesFingern spüren. Er konnte ihre Beine an seiner Hose riechen. Er dachte wieder an die verlassene alte Villa, an der er jeden Tag auf seiner Fahrt durch Malabar Hill vorbeikam, die grünen Schösslinge, die durch das steinerne Blattwerk stießen. Es war, als wäre jeder der grünen Schösslinge eine Botschaft:
Verlass mit Rosie Mumbai, such dir eine Stadt mit sauberer Luft, zeuge noch einen Sohn, einen besseren – du hast noch Zeit, du hast noch …
    Shah holte tief Luft und schloss die Augen.
    … er sah wieder die Falken, sie kreisten mit ausgestreckten Krallen, wie sie es an jenem sonnenhellen Morgen vor Doktor Nayaks Wohnung über dem Cooperage-Stadion getan hatten, in ihren Kampf verstrickt, die schönsten Kreaturen in einer schönen Welt.
    Die Falken verschwanden, und er sah eine Insel mitten im Arabischen Meer, sah sie genauso wie vor Jahren auf einem

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