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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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was?»
    «Eine Zusammenfassung der Prozesse, inwieweit sie abgeschlossen, noch anhängig oder zu erwarten sind.»
    «Es gab eine Unstimmigkeit zwischen den Abichandani-Brüdern, das stimmt, wegen 1 C. Wurde außergerichtlich geregelt. Wir haben’s hier nicht so mit den Gerichten.»
    «Gut.
Sehr
gut. Gibt es irgendwelche ‹besonderen Umstände›?»
    «Besondere Umstände?»
    «Ich meine damit Familienstreitigkeiten, aktuelle oder ruhende, illegale Untervermietungen, Übertragungen des Eigentums auf informellem Weg?»
    «Nichts davon ist hier der Fall.»
    «Morde oder Selbstmorde? Überfälle? Irgendwelche anderen Dinge, die Unglück, Karma oder negative Energie im Sinne der Vastu-Lehre verursachen könnten?»
    «Hören Sie.» Kothari verschränkte die Arme vor der Brust. Der Fremde schien die Sittengeschichte jedes Türknaufs, jeder Niete und jedes Nagels im Wohnhaus wissen zu wollen. «Sind Sie von der Polizei?»
    Der Fremde schaute von seinem Notizblock auf, als wäre er erstaunt.
    «Wir leben in gefährlichen Zeiten, oder etwa nicht?»
    «Sehr gefährlich», räumte der Verwalter ein.
    «Terroristen. Bomben in Zügen. Explosionen.»
    Der Verwalter nickte.
    «Familien brechen auseinander. Kriminelle übernehmen die Macht.»
    «Jetzt verstehe ich. Könnten Sie Ihre Fragen wiederholen?» Als der Besucher gegangen war, stellte der Verwalter fest, dass er zu nervös war, um weiterzutippen, obwohl es ihn dazu drängte. Während der täglichen Arbeit gönnte er sich zwei Sandwichs, die morgens gekauft und dann in einer Schublade seines Schreibtisches aufbewahrt wurden. Er wickelte das zweite Sandwich aus und knabberte früher als vorgesehen daran.
    Er dachte an den Zahn des Besuchers, an dem ein Eckchen fehlte.
    «Der Kerl macht vielleicht doch nicht in Chemikalien. Hat vielleicht nicht einmal eine Arbeitsstelle.»
    Aber seine Beklemmung musste dem Magen geschuldet gewesen sein, denn es ging ihm mit jedem Bissen besser.
    Die Bewohner von Vishram Turm A wussten dank des Besucherbuchs im Wachhäuschen das Wesentliche über die Fremden, die zu ihnen kamen – was man über die Nachbarn, mit denen sie seit zwanzig oder dreißig Jahren lebten, nicht unbedingt sagen konnte.
    Am späten Vormittag stieg der Verwalter Kothari (4 A) auf seinen Bajaj-Motorroller und war «geschäftlich» unterwegs. Am frühen Nachmittag, als alle anderen noch arbeiteten, kam er zurück, wobei der Rückspiegel seines Motorrollers ein Sonnenviereck auf seine Brust reflektierte wie die amtliche Bescheinigung eines reinen Gewissens. Aus seinen Abwesenheiten hatten die Nachbarnauf die Existenz eines «Geschäftes» geschlossen, das täglich nicht mehr als zwei oder drei Stunden Einsatz benötigte und dennoch irgendwie die Grundlage eines ehrbaren Broterwerbs bildete. Das war alles, was sie über Mr Kotharis Leben jenseits ihrer Tore wussten. Wenn sie ihn durch die Blume gefragt hätten, wie es ihm gelungen sei, genügend Geld für den Kauf eines Bajaj anzusparen, hätte er, als wäre dies eine Erklärung, geantwortet: «Ist ja schließlich kein Mercedes. Ist bloß ein Motorroller.»
    Er war der faulste Verwalter, den sie je gehabt hatten, was ihn zum besten Verwalter machte, den sie je gehabt hatten. Wenn es darum ging, Streitigkeiten zu schlichten, hörte Kothari beiden Parteien zu, nickte und kritzelte mitfühlende Bemerkungen auf irgendwelche Papierfetzen.
Ihr Sohn musiziert spätabends und stört das gesamte Stockwerk. Nun, er ist Musiker, das stimmt.
Kaum hatten die Streithähne sein Büro verlassen, warf er das Papier in den Abfallkorb. Gelobt sei Jesus! Gelobt sei Allah! Gelobt sei Siddhi Vinayak! etc. Die Menschen waren gezwungen, sich anzupassen; ihre Streitigkeiten gerannen zu provisorischen Kompromissen. Und das Leben ging weiter.
    Kothari kämmte sein Haar von einem Ohr zum anderen, um seine Glatze zu verdecken, was auf Eitelkeit oder Dummheit schließen ließ; seine Augen waren Schlitze unter schneeweißen Augenbrauen, und jedes Mal, wenn er grinste, verliehen ihm seine Lachfalten das Aussehen eines räuberischen Luchses. Seine Stellung brachte ihm kein Gehalt ein, dennoch schmeichelte er sich bei jeder Jahreshauptversammlung ein, bat mit zum Gruß zusammengelegten Händen praktisch um Wiederwahl; niemand konnte erklären, warum dieser farblose, kahlköpfige Geschäftsmann in einem schmuddeligen Verwalterbüro sitzen und den Kopf stundenlang in Akten und Ordnern vergraben wollte. Er war so verschlossen, dass man befürchtete, er würde

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