Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
der
Bhagavad Gita
in rot geschrieben hat:
    ICH WURDE NIE GEBOREN UND ICH WERDE NIE STERBEN;
ICH VERLETZTE NICHT UND KANN NICHT VERLETZT WERDEN;
ICH BIN UNBESIEGBAR, UNSTERBLICH,
ICH BIN UNVERWÜSTLICH.
    Eine blaue Kladde liegt auf dem Fensterbrett des Wachhäuschens. Vom Dach hängt ein Schild:
    JEDER BESUCHER MUSS SICH VOR DEM BETRETEN MIT
GENAUER ADRESSE UND HANDYNUMMER IN DAS
BESUCHERBUCH EINTRAGEN.
AUF ANORDNUNG
DES VERWALTERS DER
WOHNUNGSGENOSSENSCHAFT VISHRAM SOCIETY
    Ein Banyanbaum ist neben dem Wachhäuschen durch die Mauer gewachsen. Umbrafarben bemalt wie die Mauer und dreckgesprenkelt ragt der Baumstamm wie ein getarnter Leopard aus dem Mauerwerk; er verleiht Ram Khares Häuschen ein gediegenes und verlässliches Aussehen, das es vielleicht nicht verdient.
    An der Grundstücksmauer, vor der ein Abflussgraben verläuft, hängen zwei staubige Schilder:
    BESUCHEN SIE DAS SPEED-TEK INTERNETCAFÉ.
BESITZER IBRAHIM KUDWA
    RENAISSANCE IMMOBILIEN. EHRLICH UND ZUVERLÄSSIG.
BEIM VAKOLA MARKET
    Die abendlichen Kricketspiele der Vishram-Kinder haben den Großteil des Grundstücks jeglicher blühender Pflanzen beraubt, aber eine Hibiskusgruppe gedeiht noch und wehrt den Gestank rohen Fleisches von einem Metzgerladen irgendwo hinter der Vishram Society ab; Ratten und Bandikuts, kirre vom mysteriösen Blutgeruch, schießen wie Billardkugeln durch die enge Gasse.
    Am Sonntagmorgen riecht es nach Frischgebackenem. Es gibt hier Mangalore-Läden, die die christlichen Mitglieder der Vishram Society und andere anständige Wohnungsgenossenschaften beliefern; am Sabbatmorgen drängen sich Damen aus der St.-Anthony-Kirche in langen gemusterten Kleidern und Mädchen mit gepuderten Gesichtern und Seidenröcken in diese Läden auf der Suche nach Brot und
sunnas.
Bald schwebt der Geruch von brodelnder Brühe und würzigem Hühnchen aus den geöffneten Fenstern der Vishram Society durch die Nachbarschaft. In einer derartigen Stunde der Zufriedenheit würde sich selbst der Geist von Premierminister Nehru, sollte er über dem Gebäude schweben, befriedigt zeigen.
    Dennoch wären Vishrams Bewohner die Ersten, die darauf hinweisenwürden, dass diese Wohnungsgenossenschaft alles andere als ein Paradies ist. Man kann eine Gemeinschaft anhand der Annehmlichkeiten erkennen, die sie zu entbehren vermag. Jene in Vishram kommt ohne die grundlegendste aus: Selbstbetrug. Jedem Außenstehenden gegenüber, der Fragen stellt, werden die Bewohner großzügig die Einschränkungen einräumen, die sie in ihrem Wohnhaus ertragen müssen – in ihrer rechtschaffenen Frustration sind sie vielleicht sogar geneigt, diese Probleme zu übertreiben.
    Erstens: Das Haus verfügt, wie die meisten Gebäude in Vakola, nicht den gesamten Tag über fließendes Wasser. Da es auf der ärmeren, der östlichen, Seite der Bahngleise liegt, wird Vakola nur zweimal am Tag von der Gemeindeverwaltung beglückt; Wasser fließt morgens von 4 bis 6 Uhr durch die Hähne, und abends von 19.30 bis 21 Uhr. Die Bewohner haben außen über ihren Badezimmern Speichertanks installiert, aber diese können nur eine bestimmte Menge fassen (größere Tanks gefährden die Stabilität eines so alten Gebäudes). Gegen 17 Uhr versiegen die Hähne für gewöhnlich; die Bewohner kommen für ein Schwätzchen aus ihren Wohnungen. Ein paar Minuten nach 19.30 Uhr beendet das wieder zum Leben erwachende Gefäßsystem der Vishram Society jeglichen Schwatz; das Wasser kreist mit Hochdruck durch die Leitungen, und in den Küchen und Badezimmern wird es geschäftig. Die Bewohner wissen, dass ihr abendliches Waschen, Baden und Kochen auf diese anderthalb Stunden, wenn der Wasserdruck am größten ist, abgestimmt werden muss, genauso wie alle nebensächlichen Tätigkeiten, die fließend Wasser benötigen. Wenn die Kinder der Vishram Society ihr Dasein bis zum Tag ihrer Empfängnis zurückverfolgen könnten, würden sie zumeist herausfinden, dass sie zwischen halb sieben und Viertel vor acht gezeugt wurden.
    Für das zweite Problem ist ganz Santa Cruz berüchtigt, sogar der vornehmere Teil des Stadtviertels westlich der Eisenbahnlinie. Nachts am gravierendsten, tritt es auch sonntags zwischen 19und 20 Uhr abends auf. Man öffnet sein Fenster und sieht sich einer Boeing 747 gegenüber, die direkt über das Haus fliegt. Die Bewohner behaupten, dass einen nach dem ersten Monat der Ausdruck «Lärmbelästigung» kaltlässt – und das stimmt wohl –, dennoch sind die Mieten in der Vishram Society und den

Weitere Kostenlose Bücher