Leute, die Liebe schockt
um etwas über ihn rauszubekommen und zu sehen, ob er da ist. Wie immer spiegelt sich das Tageslicht auf dem Parkett, das vom Garten her durch die Fenster ins Wohnzimmer und den Flur fällt. Das Haus ist ganz leer geräumt. Nur im vorderen Zimmer stehen ein Hochbett und ein Schreibtisch mit Laptop. Das war’s. Wenn Arthur gerade mal nicht am Computer hockt, sitzt er oben auf seinem Hochbett und hört über Kopfhörer tierisch laut Musik. Das nervt ein bisschen, weil er nie mitkriegt, wenn ich klingle. Dann muss ich mich immer durch das Gestrüpp vor seinem Fenster kämpfen, wobei ich mit meinen Haaren in den Ästen hängen bleibe und einen leichten Wutanfall erleide. Und wenn ich dann endlich zu seinem Fenster vorgedrungen bin, muss ich volle Pulle mit der Faust dagegenschlagen, bis er schnallt, dass ich draußen stehe und reinwill.
Dieses Ans-Fenster-Hauen ist auch so ein Drahtseilakt. Dabei ist mir schon mal die Scheibe kaputtgegangen. Danach musste Papa ihm eine neue einsetzen. Zum Glück kann Papa so was. Der ist ein richtiger Handwerker, obwohl er, wie gesagt, hauptberuflich Steuerberater ist. Sowieso wollte Papa eigentlich mal Bildhauer werden. Er steht total auf entartete Kunst. Also dieses ganze expressionistische Zeug. Und wenn er mal anfängt, über
Kunst zu referieren, gibt es kein Halten mehr. Da ist er voller Leidenschaft. Mama meint dann immer: »Es wäre schön, wenn mein Mann auch mal so über mich sprechen würde.« Ich kann euch gleich sagen, das wird nie passieren. Mama wartet einfach zu sehr darauf. Darum meint Papa auch immer: »Setz mich nicht so unter Druck.« Ständig spürt er diesen Druck, dass Mama was von ihm will, ohne dass sie was sagt. Cotsch geht da bedingungsloser vor. Die setzt den Jungs gleich die Pistole auf die Brust: »Küss mir die Füße oder ich flippe aus!« Ich versuche, gar nichts zu fordern. Das ist aber auch falsch, sagt meine Therapeutin Frau Thomas, zu der ich einmal in der Woche mit der U-Bahn fahre. Sie meint: »Lelle, du musst lernen, für dich einzustehen und den anderen mit Selbstbewusstsein zu zeigen, was deine Bedürfnisse sind. Sonst werden sie dich ausnutzen und es kommt zu Missverständnissen.«
Also haue ich jetzt volle Pulle mit der flachen Hand gegen Arthurs Fensterscheibe und gehe ganz dicht dran, um herauszufinden, ob er überhaupt da ist. Um besser durchs Glas sehen zu können, lege ich meine Hände ums Gesicht und drücke meine Nase an der Scheibe platt. Wusste ich es doch: Da oben hockt mein Freund. Auf seinem Hochbett, mit riesigen Kopfhörern auf den Ohren, und raucht wieder eine von seinen Zigaretten. Er wackelt rhythmisch mit seinem Kopf rum und hat die Augen geschlossen. Ich muss nicht sagen, dass schon einige junge Menschen durch zu laute Musik über Kopfhörer zu Hörgeschädigten geworden sind. Durch die harten Schallbasswellen brechen im Inneren des Ohres die Hörhärchen ab. Und die sind nicht wiederherzustellen.
Bitte zitiert mich nicht, ich bin ja keine Medizinerin. Ich wiederhole hier nur rudimentär das, was ich mal in der U-Bahn aufgeschnappt habe, als sich zwei aufgewühlte Mütter über ihre »pubertierenden und unfassbar anstrengenden« Jungs unterhalten haben, die »ganz unfassbar schlimme Hautprobleme hatten« und »ganz unfassbar laut Musik über Kopfhörer hörten«.
Ich höre gerne zu, wenn sich Leute unterhalten. Besonders wenn sich Mütter untereinander über ihre problematischen Kinder austauschen. Die bewegen sich immer am Rand des Nervenzusammenbruchs. Keine Ahnung, woran das liegt. In jedem Fall ist es ziemlich unterhaltsam, was Mütter in der U-Bahn so von sich geben. Jeder zweite Satz lautet bei denen: »Ich kann nicht mehr.« Oder: »Ich drehe irgendwann noch durch.« Und wisst ihr was? Ich habe vor, eine andere Mutter zu werden. Eine, die nicht durchdreht. Und wisst ihr noch was? Zu diesem Zweck habe ich den richtigen Mann gefunden. Arthur. Mit dem an meiner Seite kann man gar nicht durchdrehen, weil der schnallt, wie Partnerschaft läuft. Arthur wird mich nie mit der Erziehung unserer Kindern alleinlassen. Genau wie Helmuth, der angehende Mann von meiner Schwester. Der ist total daran interessiert, dass alle gut versorgt sind. Als ich im letzten Jahr aus der Klinik für Magersüchtige entlassen wurde, hat er mir sofort als Willkommensgeschenk einen Präsentkorb mit Weinflasche, Ananas und Gänseleberpastete vorbeigebracht. Das Monstrum war in durchsichtige Knisterfolie eingepackt und bestimmt nicht ganz billig. Ich
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