Leute, die Liebe schockt
weiß es selber nicht. So oft, wie die Sex hat.«
»Lelle!«
Mama stiert mich böse an. Sowieso würde sie ja gerne daran glauben, dass ihre Töchter noch unberührte Jungfrauen sind. Ihr Tipp ist, mit dem Geschlechtsverkehr bis zur Hochzeit zu warten. Zu spät. Dabei ist sie nicht mal Katholikin. Keine Ahnung, woher diese weltfremde Einstellung kommt. So als wäre Sex etwas Schlechtes. Das, liebe Leute, lasse ich mir gar nicht erst einreden. Es ist doch schön, Zärtlichkeiten auszutauschen und jemanden zu haben, der einen fest im Arm hält. Nur weil Mama das mit Papa nicht teilt, muss sie daraus ja nicht gleich eine Sünde machen. Mama hat natürlich auch große Angst, dass Cotsch und ich uns auf diesem Wege gefährliche Geschlechtskrankheiten zuziehen, die wir dann nicht wieder loswerden. Ich meine, was das Thema anbelangt, gebe ich gerne zu, dass man als verantwortungsbewusster Mensch schon ein Auge auf diese Sache haben sollte. Auch wenn das natürlich nicht ganz einfach ist. Von wegen: »Sag mal, hast du Geschlechtskrankheiten?« Da ist es mit der Romantik doch gleich total vorbei. Unterschwellig bedeutet das ja irgendwie, dass man dem anderen unterstellt, er hätte Geschlechtskrankheiten. Außerdem kann einen diese Frage leicht so sehr aufregen, dass die eigene Stimme im fraglichen Moment total quietschig und schrill klingt und die ganze Angelegenheit noch peinlicher wird. Dennoch: In dem Fall muss man sich überwinden und nüchtern bleiben, sonst macht man sich nur hinterher Sorgen. Und dann kann es tatsächlich zu spät
sein. Zum Glück hat Arthur gleich einen HIV-Test gemacht, als er aus Afrika zurückgekommen ist, obwohl er da gar keinen Sex hatte.
Arthur ist einfach nur total verantwortungsbewusst und der beste Freund, den man haben kann. Das findet Mama auch. Und Papa liebt ihn sowieso: »Arthur hat Format. Der packt das Leben von der richtigen Seite an. Lelle, nimm dir ein Beispiel an ihm. Er hat ein Ziel vor Augen.« Das meint er mindestens einmal pro Woche, obwohl er ziemlich lange geglaubt hat, dass Arthur nachts über die Dächer schleicht und sämtliche Häuser in der Nachbarschaft ausraubt, wenn die Leute im Urlaub sind. Nur weil er alleine ohne Eltern wohnt und einen ziemlich eigenwilligen Style hat. Da sieht man mal, wie schnell das mit den Vorurteilen geht. Dabei ist Arthur der sozialste Mensche, den es auf der Welt gibt. Ich meine, der ist als Entwicklungshelfer nach Afrika gegangen! Hallo! Das nenne ich echt reif.
Mama hat inzwischen die Augen geschlossen und atmet tief ein und aus.
»Ich hätte besser keine Zigarette rauchen sollen.«
Ich weiß schon, jetzt macht Mama sich Vorwürfe wegen der einen Zigarette. Am liebsten würde sie die Zeit zurückdrehen. Mama soll echt mal lockerlassen. Andere Menschen, so wie ich, rauchen zwanzig Zigaretten am Tag. Die sollten sich Gedanken machen. Oder Cotsch. Ich höre, wie sie von oben die Treppe runterkommt. Kurz darauf bleibt sie im Türrahmen stehen und guckt wütend zu Mama rüber.
»Gratuliere, Mama! Ich bin schwanger und du kriegst einen Schwächeanfall. Ich meine, wann bitte geht es mal
um mich? Jetzt müssen wir uns wieder um dich kümmern. Danke. Echt! Danke!«
Mama klappt die Augen auf, und ich sehe, dass ihre Lippen bläulich angelaufen sind. Ausnahmsweise mache ich mir gerade mal wirklich Sorgen. Mama sieht nicht gut aus. Vielleicht verträgt sie echt keinen Zigarettenrauch. Kann doch sein. Genau wie Geschmacksverstärker. Auf die reagiert Mama auch total allergisch, weil sie sich ja sonst nur biologisch ernährt. Die kriegt ganz dicke Backen davon, als hätte sie Mumps. Den Fall hatten wir einmal. Daraufhin dachte Mama, sie stirbt.
Im Übrigen ist das, was Cotsch da eben vom Stapel gelassen hat, milde ausgedrückt, eine ziemliche Unverschämtheit. Seit sie auf der Welt ist, dreht sich alles um sie. Mama kommt ja kaum noch dazu, sich um den Haushalt zu kümmern, weil sie ständig damit beschäftigt ist, Cotsch emotional aufzubauen. Andauernd zweifelt meine Schwester an Helmuths Liebe, nur weil er sich ab und an erlaubt, eine Viertelstunde die Abendnachrichten anzusehen. Sofort fühlt sich Cotsch abgestellt. Darum will sie ihn ja auch dringend heiraten, weil sie glaubt, dass Helmuth sie dann nicht mehr verlassen kann. Manchmal meint Mama heimlich zu mir: »Constanze muss wirklich lernen, sich selbst zu genügen.« Finde ich auch. Es gibt nämlich, ganz pauschal gesehen, kein tolleres Mädchen als sie. Ich meine, die Jungs sind
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