Leute, die Liebe schockt
meine, ich hätte mich mehr über einen Friseurbesuch gefreut, aber die Geste zählt.
Jetzt stellt sich nur die Frage: Warum dreht meine Schwester trotzdem durch, wenn sie so einen Fels als Mann neben sich hat? Ich glaube, weil sie sich ihm intellektuell überlegen fühlt. Meine Schwester ist sehr, sehr schlau. Die hat in ihrem Leben schon an die zweihundert Bücher gelesen. Die legt sich im Wohnzimmer aufs Sofa, schlägt das Buch auf und schlürft es in sich rein. Egal wie knifflig der Inhalt ist. Meine Schwester kann sich anschließend an alle Details erinnern. Im Gegensatz zu mir. Ich brauche hundert Jahre für eine Buchseite, weil ich es irgendwie nicht schaffe, mich zu konzentrieren. Ständig schweifen meine Gedanken ab, und manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich wieder Kalorien zähle oder überlege, ob mich die Leute in der Schule mögen, ob ich zu allen nett war und so weiter.
Wieder haue ich gegen die Scheibe und Arthur hört mich nicht. Der hat sich von dieser Welt verabschiedet. Der will nichts mitkriegen, der hat sich in seine Musik zurückgezogen. Das finde ich jetzt doch ein bisschen egoistisch. Ich brauche seine Hilfe und er macht einen auf »Ich bin gerade nicht zu sprechen.« Ich haue doller gegen die Scheibe, sodass sie unter meinem Schlag gefährlich vibriert. Dazu brülle ich: »Arthur!«
Er schüttelt weiter seinen Kopf hin und her und zieht mit geschlossenen Augen an seiner Zigarette und ist irgendwo in seinem Traumland unterwegs. Langsam reicht’s mir aber. »ARTHUR!«
Tze! Der bemerkt mich nicht! Leute, ich meine, stellt euch mal vor, dies wäre ein Notfall! Ein Psycho würde mich ermorden wollen und ich würde hier am Fenster stehen und um Hilfe schreien, aber Arthur würde nur im
Takt der Musik lässig mit dem Kopf wackeln und Zigaretten rauchen, während ich nach Strich und Faden aufgeschlitzt werde. Danke! Ich meine, das ist so was von nicht okay!
»ARTHUR!«
Ich haue noch mal voll zu, und Leute, jetzt ist die Scheibe schon wieder zerbrochen. Dafür reißt Arthur endlich die Augen auf und fasst sich ans Herz. Ich schlage mir die Hand vor den Mund, weil mir der Vorfall echt peinlich ist, und gerade weiß ich gar nicht mehr, warum ich eigentlich so dringend was von Arthur wollte. Wisst ihr es noch? Ich glaube, ich habe wegen der zerstörten Scheibe eine Art Schock oder so. Ich habe mein Gedächtnis verloren! In meinem Kopf rauscht es, ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, mich zu erinnern, was war, bevor ich mich durch die Büsche vor Arthurs Fenster gekämpft habe, warum ich hier stehe und schon wieder seine Scheibe einschlage. Mist. Ich starre durch die angeknackste Scheibe. Das gibt Ärger mit Papa. Zum Glück ist das Fenster doppelt verglast. Das heißt, Arthur braucht zumindest keine Sorge zu haben, dass es bei ihm reinregnet. Langsam nimmt er sich die Kopfhörer runter, legt sie neben sich, drückt die Zigarette aus und klettert die Leiter runter. Er verschwindet aus dem Zimmer, ich zähle bis zehn und dann geht neben mir die Haustür auf.
Ich bewege mich nicht. Ich höre, wie Arthur zu mir in die Büsche ruft: »Lelle?«
Erst jetzt mache ich einen winzigen Drehschritt auf dem heruntergefallenen Laub und den aufblühenden Krokussen, sodass ich Richtung Haustür sehen kann. Da ist Arthur. Mein hübscher Freund. Er steht oben auf dem
Fußabtreter, mit grünen Socken an den Füßen. Er beugt sich vor, sodass er mich besser sehen kann, und streicht sich seine Haare hinters Ohr.
Ich hebe cool die Hand. »Hi!«
»Du hast schon wieder meine Scheibe eingeschlagen.«
»Ich weiß.«
»Warum?«
»Weil du mich nicht gehört hast.«
Ich kämpfe mich durch die knospenden Zweige und Äste auf den Plattenweg vom Vorgarten und steige dann die zwei Treppenstufen rauf, neben Arthur auf den Fußabtreter. Der ist auch schon hundert Jahre alt. An allen Ecken ribbelt er auf, und Papa meint schon lange, wir sollten Arthur vom Baumarkt mal einen neuen mitbringen. Aber dann vergessen wir es immer wieder. Und so wichtig ist die Sache ja auch nicht. Ich mache so ein Geräusch mit dem Mund, damit Arthur weiß, dass mir die Sache mit der Scheibe richtig leid tut, und gehe an ihm vorbei ins leere Haus. Im Flur bleibe ich stehen und warte, dass Arthur mir folgt. Er schließt die Tür hinter sich, wie immer hat er einen ausgewaschenen Kapuzenpulli und eine abgewetzte Jeans an. Und wie immer riecht er nach Nivea-Duschgel. Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum ich hier bin: Mama braucht
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