Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
oben auf der Rampe standen, wechselten Blicke und kamen zu ihnen herunter, als die Neugierde die Oberhand gewann und sie ihre Anweisungen vergaßen. Holden und Miller schnauften vernehmlich. Ko war gar nicht so schwer. Ein schlechtes Zeichen.
»Was ist denn da passiert?«, wollte einer der Wächter wissen.
»Da unten haben sich ein paar Leute verschanzt«, erklärte Miller. »Widerstand. Ich dachte, ihr hättet hier schon aufgeräumt.«
»Das war nicht unsere Aufgabe«, erklärte der Mann. »Wir sollten nur dafür sorgen, dass die Leute aus dem Casino in die Schutzräume gehen.«
»Dann hat jemand Mist gebaut«, fauchte Miller. »Habt ihr ein Transportmittel?«
Wieder wechselten die Wächter unsichere Blicke.
»Wir können eins rufen«, bot einer an, der weiter hinten stand.
»Vergessen Sie es«, sagte Miller. »Ihr kümmert euch jetzt um die Heckenschützen.«
»Warten Sie mal«, sagte der Erste. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Wir sind vom Installationsteam von Protogen«, erklärte Holden. »Wir ersetzen die ausgefallenen Sensoren. Der hier sollte uns eigentlich helfen.«
»Davon hab ich gar nichts gehört«, wandte der Anführer ein.
Miller schob einen Finger unter Kos Rüstung und drückte. Ko kreischte und wand sich vor Schmerzen.
»Sie können ja mit Ihrem Vorgesetzten alles in Ruhe besprechen, sobald Sie einen Augenblick Zeit haben«, sagte Miller. »Kommen Sie schon, der Typ braucht einen Arzt.«
»Warten Sie!«, sagte der erste Wächter. Miller seufzte. Sie waren zu viert. Wenn er Ko fallen ließ und sofort in Deckung sprang … nur dass es hier nicht viel Deckung gab. Und wie würde Holden reagieren?
»Wo sind die Schützen?«, fragte der Wächter. Miller hätte beinahe gelächelt.
»Einen Viertelkilometer gegen die Drehrichtung ist ein Wohnloch«, erklärte Miller. »Da liegt noch ein Toter, ihr könnt ihn nicht übersehen.«
Miller ging die Rampe hinunter. Hinter ihm redeten die Wächter miteinander und überlegten, was sie tun sollten, wen sie anrufen sollten und wen sie schicken sollten.
»Sie sind völlig verrückt«, sagte Holden und übertönte das Wimmern des halb bewusstlosen Ko.
Vielleicht stimmte das sogar.
Wann hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein?, überlegte Miller. Es musste einen solchen Augenblick geben. Man traf eine Entscheidung, und alles änderte sich. Vorher war man die eine Person, danach eine ganz andere. Als sie durch die Ebenen von Eros liefen und den blutenden Ko mitschleppten, dachte Miller nach. Wahrscheinlich starb er bald an der Strahlenkrankheit. Er log sich an einem halben Dutzend Männern vorbei, die ihn nur passieren ließen, weil sie daran gewöhnt waren, dass alle anderen Angst vor ihnen hatten, was auf Miller nicht zutraf. In den letzten zwei Stunden hatte er drei Menschen getötet. Vier, wenn er Ko mitzählte. Also wohl eher vier.
Der analytische Teil seines Gehirns, diese kleine, leise Stimme, die er über die Jahre kultiviert hatte, beobachtete seine Bewegungen und Entscheidungen. Alles, was er getan hatte, war in dem betreffenden Augenblick absolut sinnvoll gewesen. Ko anschießen, die anderen drei töten. Die Sicherheit des Verstecks verlassen, um die Evakuierung zu beobachten. Emotional war die Sache jederzeit völlig klar gewesen. Erst wenn er es mit einiger Distanz betrachtete, wurden ihm die Gefahren bewusst. Hätte er dies bei jemand anders beobachtet – bei Muss, Havelock oder Sematimba –, dann hätte er keine Minute benötigt, um festzustellen, dass sie neben der Spur waren. Da es ihn selbst betraf, hatte er länger gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Holden hatte recht. Irgendwo unterwegs hatte er sich selbst verloren.
Gern hätte er sich eingeredet, es sei in dem Moment passiert, als er Julie gefunden hatte, als er erkannt hatte, was mit ihrem Körper geschehen war, doch das war nicht mehr als ein sentimentaler Augenblick gewesen. Die Wahrheit war, dass auch seine früheren Entscheidungen objektiv betrachtet allesamt widersinnig erschienen: Er hatte Ceres verlassen, um die wilde Jagd auf Julie aufzunehmen, davor hatte er sich durch Trinken um den Job gebracht, und er war viele Jahre Tag um Tag ein Cop geblieben, nachdem er damals jemanden getötet hatte. Er hatte die Ehe mit der Frau, die er einmal geliebt hatte, aufs Spiel gesetzt. Er hatte in den schlimmsten Auswüchsen herumgewühlt, welche die Menschheit überhaupt zu bieten hatte. Er hatte sich selbst vor Augen geführt, dass er fähig war, andere Menschen zu
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