Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
töten. In dieser Entwicklung gab es keinen Punkt, an dem er guten Gewissens hätte sagen können, dass er ein gesunder, vernünftiger Mann war, und irgendwann hatte es ihn nicht mehr gekümmert.
Vielleicht kumulierten die Schäden mit der Zeit wie beim Rauchen. Einmal spielte keine Rolle, fünfmal auch noch nicht. Aber jedes Gefühl, das er ausgeblendet hatte, jede menschliche Nähe, die er abgewehrt hatte, jede Liebe und Freundschaft und jedes Mitgefühl, dem er den Rücken gekehrt hatte, war ein Schritt gewesen, der ihn ein Stückchen weiter von sich selbst entfernt hatte. Bisher hatte er Menschen ohne Angst vor Strafe töten können. Der drohende Tod trieb ihm die Selbstverleugnung aus. Er musste planen und etwas unternehmen.
Vor seinem inneren Auge legte Julie Mao den Kopf schief und hörte ihm zu. Sie hielt ihn fest und schmiegte sich an ihn, was jedoch eher tröstend als erotisch war. Tröstend. Verzeihend.
Deshalb hatte er sie gesucht. Julie hatte den Teil in ihm verkörpert, der zu menschlichen Regungen fähig war. Ein Symbol für das, was er hätte werden können, wenn er nicht dies geworden wäre. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass seine eingebildete Julie irgendetwas mit der realen Frau zu tun hatte. Es wäre eine Enttäuschung für sie beide geworden, wenn sie sich begegnet wären.
Er musste daran glauben, wie er vorher an das geglaubt hatte, was ihn von der Liebe abgeschnitten hatte.
Holden hielt an. Der Tote – Ko war endlich gestorben – holte Miller in die Gegenwart zurück.
»Was ist?«
Holden nickte in die Richtung der Zugangsluke. Miller sah sie verständnislos an, dann begriff er es. Sie hatten es geschafft, sie waren wieder vor dem Versteck.
»Alles klar?«, sagte Holden.
»Ja«, antwortete Miller. »War nur abwesend. Tut mir leid.«
Er ließ Ko fallen, der Gangster prallte mit einem traurigen Schmatzen auf den Boden. Miller war der Arm eingeschlafen. Er schüttelte ihn, konnte aber das Kribbeln nicht vertreiben. Ihm wurde übel. Symptome, dachte er.
»Wie liegen wir in der Zeit?«, fragte Miller.
»Wir haben etwas Verspätung. Fünf Minuten. Das geht in Ordnung.« Holden schob die Tür auf.
Der Raum dahinter, wo Naomi, Alex und Amos gehockt hatten, war leer.
»Verdammt auch«, fluchte Holden.
29 Holden
»Verdammt auch«, fluchte Holden. Und gleich darauf: »Die sind schon weg.«
Nein, sie hatte ihn verlassen. Naomi hatte getan, was von ihr erwartet wurde, doch als er nun mit der Realität konfrontiert wurde, erkannte Holden, dass er ihr eigentlich nicht geglaubt hatte. Aber da hatte er den Beweis. Der leere Raum, wo sie gewesen war. Sein Herz hämmerte, die Kehle wurde ihm eng, er keuchte. Das flaue Gefühl im Bauch war Verzweiflung oder der Darm, der die Schleimhaut abstieß. Er würde vor einem billigen Hotel auf Eros sitzen und sterben, weil Naomi genau das getan hatte, was sie abgesprochen hatten. Was er ihr selbst befohlen hatte. Die Enttäuschung war für Vernunftgründe völlig unempfänglich.
»Wir sind tot«, sagte er und setzte sich auf die Ecke eines Pflanztopfs voller Farn.
»Wie lange haben wir noch?« Miller blickte auf dem Korridor hin und her und fummelte mit der Waffe herum.
»Keine Ahnung.« Holden deutete fahrig auf das blinkende rote Symbol seines Terminals. »Ein paar Stunden, bis wir es wirklich spüren, aber ich weiß es nicht genau. Bei Gott, ich wünschte, Shed wäre noch da.«
»Shed?«
»Ein Freund.« Holden hatte keine Lust, es näher zu erklären. »Ein guter Medizintechniker.«
»Rufen Sie sie«, sagte Miller.
Holden tippte einige Male auf sein Terminal.
»Das Netzwerk ist immer noch deaktiviert.«
»Gut«, entschied Miller. »Dann gehen wir zum Schiff und sehen, ob es noch im Dock liegt.«
»Sie sind längst weg. Naomi sorgt dafür, dass die Crew überlebt. Sie hat mich gewarnt, aber …«
»Lassen Sie uns hier verschwinden.« Miller trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Miller.« Holden hielt inne. Der Cop war offensichtlich sehr gereizt, und er hatte vier Leute erschossen. Holden bekam allmählich Angst vor dem Mann. Als könnte er seine Gedanken lesen, trat Miller zu ihm. Der zwei Meter große Mann überragte ihn, zumal Holden noch saß. Miller lächelte wehmütig, seine Augen waren beunruhigend sanft. Die Drohungen waren Holden beinahe lieber.
»Wie ich es sehe, gibt es jetzt drei Möglichkeiten«, erklärte Miller. »Erstens, wir finden Ihr Schiff im Dock, nehmen die Medikamente und überleben vielleicht.
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