Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes (The Expanse Series Book 1)
neutralisieren. Die Forensiker hatten Proben genommen und waren bereit, den armen Kerl herunterzuholen.
Miller staunte immer wieder, wie friedlich Tote oft aussahen. Auch wenn sie unter den schrecklichsten Umständen verendet waren, am Ende zeigten sie eine tiefe Ruhe und Gelassenheit, die an Schlaf erinnerte. Er fragte sich, wann er selbst an der Reihe sei, und ob er sich dann wirklich würde entspannen können.
»Überwachungskameras?«, fragte er.
»Seit drei Tagen kaputt«, informierte ihn seine neue Partnerin. »Die Jugendlichen haben sie zerstört.«
Octavia Muss hatte sich mit Körperverletzung und ähnlichen Delikten befasst, bevor Star Helix die Abteilung in kleinere spezialisierte Teams unterteilt hatte. Danach war sie für Vergewaltigungen zuständig gewesen, anschließend ein paar Monate für Verbrechen gegen Kinder. Wenn die Frau noch eine Seele besaß, dann war sie so dünn gepresst, dass man hindurchschauen konnte. Mehr als leichte Überraschung war ihren Augen niemals anzumerken.
»Kennen wir die Jugendlichen?«
»Ein paar Punks, die weiter oben wohnen«, erklärte sie. »Festnahme, Geldstrafe, Entlassung.«
»Wir sollten sie zusammentreiben«, schlug Miller vor. »Es würde mich interessieren, ob jemand sie bezahlt hat, um genau diese Kameras zu zerlegen.«
»Ich halte dagegen.«
»Wer der Täter auch war, er wusste, dass die Überwachung außer Betrieb war.«
»Jemand von der Wartung?«
»Oder ein Cop.«
Muss schmatzte und zuckte mit den Achseln. Ihre Familie lebte schon seit drei Generationen im Gürtel. Sie hatte Angehörige auf Schiffen wie jenem, das die Scipio vernichtet hatte. Die Haut, die Knochen und die Knorpel, die vor ihr an der Wand hingen, waren für sie nichts Neues. Wenn man unter Schub einen Hammer fallen ließ, fiel er auf das Deck. Wenn die Regierung sechs chinesische Prospektorenfamilien abschlachtete, wurde jemand mit einem meterlangen Fräsdorn aus Titanlegierung an die Wand genagelt. Eins zu eins.
»Es wird Konsequenzen geben«, sagte Miller und meinte damit: Das hier ist keine Leiche, sondern eine Anschlagtafel. Es ist eine Kriegserklärung.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Muss. Der Krieg ist überall, ob Anschlagtafel oder nicht.
»Ja«, stimmte Miller zu. »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht kommt es gar nicht dazu.«
»Wollen Sie die Angehörigen übernehmen? Ich kann mir inzwischen die Aufzeichnungen aus der Umgebung ansehen. Sie haben ihm die Finger nicht hier im Flur verbrannt, sondern ihn von irgendwo herbeigeschleppt.«
»In Ordnung«, sagte Miller. »Ich habe einen vorformulierten Beileidstext, den ich abschicken kann. War er verheiratet?«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Hab noch nicht nachgesehen.«
Auf der Wache saß Miller allein am Schreibtisch. Muss hatte zwei Abteile weiter bereits einen eigenen bekommen und nach ihrem Geschmack eingerichtet. Havelocks Arbeitsplatz war leer und zweimal gründlich gereinigt worden, als hätte der Hausmeister den Geruch der Erde ein für alle Mal von dem schönen Gürtler-Stuhl tilgen wollen. Miller rief die Akte des Toten auf und fand die nächste Angehörige. Jun-Yee Dos Santos arbeitete auf Ganymed, sie hatten vor sechs Jahren geheiratet. Keine Kinder. Wenigstens etwas, über das man froh sein konnte. Wenn man schon sterben musste, sollte man wenigstens bei anderen keine Narben hinterlassen.
Er öffnete den Muster-Beileidsbrief und setzte den Namen der frischgebackenen Witwe und die Adresse ein. Sehr geehrte Mrs Dos Santos, leider muss ich Ihnen mitteilen blabla . Ihr [er arbeitete sich durch das Menü] Ehemann war ein geschätzter und respektierter Bürger von Ceres, und ich versichere Ihnen, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, damit der oder die Mörder Ihrer/Ihres [Miller wählte das Passende aus] gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden. Mit freundlichen Grüßen …
Es war unmenschlich. Es war unpersönlich und kalt und so leer wie das Vakuum. Der Brocken Fleisch an der Wand des Flurs war ein lebendiger Mann mit Leidenschaften und Ängsten gewesen wie jeder andere. Miller fragte sich, was es über ihn sagte, wenn er diese Tatsache so leicht ignorieren konnte, aber im Grunde wusste er es schon. Er schickte die Mitteilung ab und schob den Gedanken an den Schmerz, den sie verursachen würde, beiseite.
Das Schwarze Brett war voll. Doppelt so viele Vorfälle wie sonst. So sieht das eben aus, dachte er. Keine Aufstände, keine Hausdurchsuchungen von Marinesoldaten, die sich auf einem
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