Lewis CS - Narnia 3
war? Wenn er daran dachte, daß ihn all diese netten Leute für einen Verräter hielten, wurde ihm ganz mulmig.
Aber als die Sonne langsam zum Zenit wanderte und sich dann allmählich nach Westen senkte, als keiner kam und als überhaupt nichts passierte, da bekam er es mit der Angst. Und jetzt fiel ihm auch ein, daß sie nicht vereinbart hatten, wie lange sie bei den Gräbern aufeinander warten wollten. Er konnte ja schließlich nicht ewig hierbleiben! Bald würde es wieder dunkel werden, und dann erwartete ihn wieder eine Nacht wie die letzte. Dutzende von Plänen gingen ihm im Kopf herum, doch keiner taugte etwas. Zuletzt entschloß er sich für den unangenehmsten Plan von allen. Er wollte bis zum Einbruch der Dunkelheit warten und dann zum Fluß hinuntergehen und so viele Melonen stehlen, wie er nur tragen konnte. Dann wollte er sich allein auf den Weg zum Berg Pire machen und sich dabei auf den Richtungspfeil verlassen, den er heute morgen in den Sand gezeichnet hatte. Es war ein verrückter Einfall, und wenn er so viele Bücher über Reisen durch die Wüste gelesen hätte wie ihr, wäre ihm das nie in den Sinn gekommen. Aber Shasta hatte noch kein einziges Buch gelesen.
Doch schließlich, noch bevor die Sonne unterging, passierte etwas. Shasta saß im Schatten eines Grabes, als er zwei Pferde auf sich zukommen sah. Sein Herz machte einen Satz, denn es waren tatsächlich Bree und Hwin. Doch gleich darauf sank ihm das Herz wieder. Aravis war nirgends zu sehen. Die Pferde wurden von einem fremden Mann geführt. Er war bewaffnet und trug sehr schöne Kleider. Bree und Hwin sahen nicht mehr wie Packpferde aus - sie trugen jetzt wieder Sattel und Zaumzeug. Was das wohl bedeuten mochte? Es ist sicher eine Falle, dachte Shasta. Irgend jemand hat Aravis geschnappt. Man hat sie vielleicht gefoltert, und sie hat alles verraten. Sie wollen mich hervorlocken, und dann schnappen sie mich auch! Aber andererseits - wenn ich hierbleibe, dann verscherze ich mir vielleicht die einzige Gelegenheit, die anderen jemals zu treffen! Oh, wenn ich nur wüßte, was geschehen ist! Er versteckte sich hinter dem Grab, lugte alle paar Minuten dahinter hervor und zermarterte sich den Kopf, was er tun sollte.
ARAVIS IN TASHBAAN
Und das war geschehen:
Als Aravis sah, wie Shasta von den Narnianen weggeführt wurde, und als es ihr klar wurde, daß sie mit den beiden Pferden, die klugerweise kein Wort sagten, allein war, da verlor sie nicht eine einzige Sekunde lang den Kopf. Sie packte Brees Strick und blieb stehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie ließ sich nichts anmerken. Als die Herren aus Narnia vorübergegangen waren, wollte sie sich wieder in Bewegung setzen. Doch noch bevor sie den ersten Schritt gemacht hatte, tauchte schon wieder ein Ausrufer auf. „Macht Platz, macht Platz! Macht Platz für die Tarkheena Lasaraleen!“ Gleich hinter dem Ausrufer gingen vier bewaffnete Sklaven, und dahinter kamen vier Träger mit einer Sänfte, an der seidene Vorhänge flatterten und silberne Glöckchen klirrten. In der ganzen Straße roch es plötzlich nach duftenden Ölen und nach Blumen. Hinter der Sänfte gingen Sklavinnen in herrlichen Gewändern, dahinter folgten Diener, Laufburschen, Pagen und alle möglichen anderen Bediensteten. Und da machte Aravis ihren ersten Fehler.
Sie kannte Lasaraleen sehr gut - es war fast, als wären sie zusammen zur Schule gegangen, denn sie hatten oft die gleichen Häuser und die gleichen Feste besucht. Aravis konnte nicht anders - sie mußte einfach wissen, wie Lasaraleen jetzt, wo sie verheiratet war und zu den allerbesten Kreisen gehörte, wohl aussehen mochte.
Das wurde ihr zum Verhängnis. Die Augen der beiden Mädchen trafen sich. Lasaraleen setzte sich sofort auf und rief laut:
„Aravis! Was machst du denn hier? Dein Vater …“
Keine Sekunde war zu verlieren. Aravis ließ die Pferde los, hielt sich am Rand der Sänfte fest, schwang sich zu Lasaraleen hinauf und flüsterte ihr aufgeregt ins Ohr: „Sei still! Hörst du? Kein Wort mehr. Du mußt mich verstecken! Sag deinen Leuten …“
„Aber Liebling …“, protestierte Lasaraleen lautstark. Es machte ihr gar nichts aus, daß die Leute starrten. Es war ihr sogar ganz recht.
„Tu, was ich dir sage, oder ich rede nie mehr ein Wort mit dir!“ zischte Aravis. „Rasch, bitte rasch, Las. Es ist schrecklich wichtig. Sag deinen Leuten, sie sollen die beiden Pferde mitnehmen. Dann mußt du die Vorhänge schließen, und wir müssen
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