Lewis, Michael
halb offen stand, auch beim Essen. So, als befürchte er,
einen Gedanken, der ihm durch den Kopf schoss, nicht schnell genug aussprechen
zu können, bevor der nächste auftauchte, weshalb er den Kanal ständig offen
hielt. Seine gesamte Mimik richtete sich stets an dem jeweils aufkeimenden
Gedanken aus. Sein Gesicht war das genaue Gegenstück zu einem Pokerface.
In
seinem Umgang mit der Außenwelt kristallisierte sich ein Muster heraus. Die
wachsende Zahl der Menschen, die für Steve Eisman arbeiteten, schätzte ihn
entweder sehr oder fand ihn zumindest amüsant und würdigte seine Bereitschaft
und Fähigkeit, sein Geld und sein Wissen weiterzugeben. »Er ist der geborene
Lehrer«, erzählte eine seiner Mitarbeiterinnen. »Und ein engagierter
Beschützer der Frauen.« Er identifizierte sich mit den kleinen Leuten und den
Benachteiligten, obwohl er selbst nicht so richtig dazugehörte. Wichtige
Zeitgenossen, die von Eisman Zeichen der Ehrehrbietung oder des Respekts erwarteten,
waren nach der Begegnung mit ihm häufig schockiert und empört. »Viele Menschen
verstehen Steve nicht«, verriet mir Meredith Whitney. »Doch wer ihn versteht,
der hat ihn gern.« Zu den Leuten, die Steve nicht verstanden, gehörte der Chef
eines großen US-amerikanischen Maklerhauses. Er musste erleben, wie Eisman vor
mehreren Dutzend Investoren bei einem Mittagessen erklärte, warum er, der
Leiter des Maklerhauses, keine Ahnung von seinem Geschäft habe. Dann stand
Eisman während des Essens auf und verschwand. (»Ich musste auf die Toilette«,
erklärte Eisman. »Ich weiß nicht mehr, warum ich danach nicht mehr
zurückgegangen bin.«) Nach diesem Essen verkündete der Mann, er werde nie
wieder denselben Raum betreten wie Steve Eisman. Eine ähnliche Erfahrung machte
der Präsident eines großen japanischen Immobilienunternehmens. Er hatte Eisman
den Jahresabschluss seiner Firma geschickt und war dann mit einem Dolmetscher
aufgetaucht, um Eisman zur Investition zu überreden. »Sie halten ja selbst
keine Aktien Ihres Unternehmens«, meinte Eisman nach der üblichen ausführlichen
Vorstellung des japanischen Geschäftsmanns. Der Dolmetscher nahm Rücksprache
mit dem CEO.
»In
Japan ist es nicht üblich, dass Mitglieder der Geschäftsleitung Aktien
erwerben«, sagte er schließlich.
Eisman
hatte befunden, dass der vorgelegte Jahresabschluss keine Angaben zu den
wirklich wichtigen Fakten über das Unternehmen des Japaners enthielt. Doch
statt ihm das einfach zu sagen, hob er das Dokument mit spitzen Fingern hoch,
als ekle er sich davor. »Das hier ... ist Toilettenpapier«, sagte er. »Übersetzen
Sie das.«
»Der
Japaner nimmt seine Brille ab«, erinnerte sich ein Zeuge der seltsamen
Begegnung. »Seine Lippen zittern. Der Dritte Weltkrieg steht bevor. >Toy-lay-Papier?
Toy-lay-Papier?<«
Ein
Hedgefondsmanager, der Eisman zu seinen Freunden zählt, wollte mir von ihm
berichten, brach jedoch nach einer Minute ab - nachdem er beschrieben hatte,
wie Eisman verschiedene einflussreiche Persönlichkeiten als Lügner oder
Ignoranten entlarvt hatte -, und begann zu lachen. »Irgendwie ist er ein
ziemliches Arschloch, aber er ist clever, ehrlich und unerschrocken.«
»Selbst
an der Wall Street hält man ihn für unhöflich, unausstehlich und aggressiv«,
sagte Eismans Frau Valerie Feigen, die bei J. P. Morgan arbeitete, bevor sie
den Damenmodeladen Edit New York aufmachte und sich der Erziehung ihrer Kinder
widmete. »Er hat nichts übrig für Umgangsformen. Glauben Sie mir, ich habe mir
wirklich alle Mühe gegeben, ihm welche beizubringen.« Als sie ihn ihren Eltern
vorstellte, hatte ihre Mutter gesagt: »Tja, wir können nichts mit ihm anfangen,
aber wir können ihn bestimmt beim United Jewish Appeal versteigern.« Eisman
hatte ein gewisses Talent dafür, andere vor den Kopf zu stoßen. »Er ist nicht
aus taktischen Gründen unmanierlich«, erklärte seine Frau. »Er ist einfach so.
Er weiß, dass ihn alle für einen Exzentriker halten, doch er selbst sieht sich
nicht so. Steven lebt in seiner eigenen Welt.«
Fragte
man ihn nach der Aufregung, die er verursachte, schaute Eisman nur verdattert
und fast ein bisschen verletzt. »Ich vergesse mich ab und zu«, antwortete er
dann achselzuckend.
Die
erste von vielen Theorien über Eisman lautet: Er interessierte sich einfach so
viel mehr für das, was ihm gerade durch den Kopf ging, als dafür, wen er vor
sich hatte, dass Ersteres Letzteres verdrängte. Andere, die Eisman gut
kannten, fanden nicht,
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