Lexikon der Oeko-Irrtuemer
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 11. 1996. 5 WWF-Journal Nr. 3/1992. 6 Berliner Zeitung vom 25. 6. 1997. 7 B. Klausnitzer, Verstädterung von Tieren, 1989. 8 Natur Nr. 2/1991.
»In Industrieländern ist kein Platz für Tiere«
Die meisten Tiere wurden ausgerottet, als die Schlote des Frühkapitalismus rauchten. Tieröl war der Schmierstoff der industriellen Revolution. Dafür wurden Robben, Wale und Meeresvögel in unvorstellbaren Mengen abgeschlachtet. Gleichzeitig erlegten schießwütige Jäger auf allen Kontinenten Millionen von wilden Tieren. Wandertaube, Riesenalk (ein flugunfähiger Seevogel), Quagga (eine Zebraart), die Stellersche Seekuh und viele andere Geschöpfe fielen diesem Raubbau zum Opfer. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Plünderung ihren Zenit erreicht. Die warnenden Stimmen der Naturschützer fanden immer mehr Gehör.
Die nächste Bedrohungswelle richtete sich denn auch nicht mehr direkt gegen wilde Tiere und Pflanzen. Sie war ein Nebeneffekt der Veränderungen in der Landwirtschaft: Wildnis wurde in eintönige Ackerflächen umgewandelt, Agrarchemikalien, wie etwa DDT, vergifteten Vögel und andere Lebewesen. Der Höhepunkt dieser Entwicklung wird in den jungen Industriestaaten gerade erreicht und ist in Nordamerika und Westeuropa bereits überschritten.
In vielen Entwicklungsländern, die noch auf dem Weg zur Industriegesellschaft sind, herrschen heute frühkapitalistische Verhältnisse: Raubbau an der Natur und eine rapide Expansion der Landwirtschaft. Dort wird zur Zeit am meisten zerstört.
In den alten Industrienationen Europas und Nordamerikas hat sich der Wind gedreht. Dort ist die Bewahrung der Natur heute ein hochrangiges gesellschaftliches Ziel. Die Vereinigten Staaten (die als größte Wirtschaftsmacht der Erde eine Leitfunktion haben) stellten elf Prozent ihrer Fläche unter Naturschutz. Tausende von professionellen Naturschützern bewachen die Wildnisgebiete in den USA. Jedes Jahr besuchen Millionen von Touristen Nationalparks und andere Reservate. Die meisten der Tiere, die in den sechziger und siebziger Jahren als bedroht aufgelistet worden waren, breiteten sich wieder aus. Anfang der neunziger Jahre nisteten wieder über 4 000 Weißkopfseeadler in den USA. Vor 30 Jahren galt der nationale Wappenvogel als nahezu ausgestorben. Die Robbenkolonien an der Westküste, die fast vernichtet waren, erholten sich rapide, so daß allein die Zahl der Kalifornischen Seelöwen Ende der neunziger Jahre auf 180000 geschätzt wurde. 1
Auch in Deutschland und im übrigen Europa kehrten viele verloren geglaubte Tiere zurück. Schlüsselarten des Naturschutzes breiten sich wieder aus: Lachs, Kranich, Schwarzstorch, Fischadler, Seeadler, Wanderfalke, Uhu, Steinbock, Seehund, Biber, Luchs und in Brandenburg sogar der Wolf. Sie alle, und noch einige mehr, waren noch vor einigen Jahren völlig aus Deutschland verschwunden oder viel seltener als heute. Die 1996 erschienene Rote Liste der Brutvögel in Deutschland ist erstmals kürzer geworden. 42 Prozent der heimischen Arten gelten demnach als gefährdet. Vor fünf Jahren waren es noch 61 Prozent. 2 Weißstörche, die Symbolvögel des Naturschutzes, nahmen deutlich zu. In Deutschland nisten heute zirka 4200 Paare, ein Anstieg um 25 Prozent in zehn Jahren.
Wie vertragen sich diese guten Nachrichten mit den vielen Hiobsbotschaften? Schließlich ist in den Statistiken des Bundesamt für Naturschutz nachzulesen: 55,2 Prozent der Wirbeltiere in Deutschland sind gefährdet. 3 Der Artenschutzexperte Paul Müller mißtraut den düsteren Zahlen. Er kritisiert, daß die Schätzungen für viele Tiere auf unzureichenden Daten beruhen, die zudem für die einzelnen Tiergruppen »grundverschiedene Informationsqualitäten« besitzen. 3 Bei kleineren Lebewesen schwanken die Bestandszahlen oft heftig, es kommt zu Populationszusammenbrüchen und dann wieder zur einer explosionsartigen Vermehrung. Solche und andere Umstände können das statistische Bild heftig verfälschen. Die Tatsache, daß sich viele Großsäugetiere und Großvögel, die schon fast ganz verschollen waren, wieder in Mitteleuropa ausbreiten, ist gesichert. Sie zeigt, daß es auch in Industrieländern Platz für Tiere gibt.
1 G. Easterbrook, A Moment on Earth, 1995. 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. 11. 1996. 3 Umweltbundesamt, Daten zur Umwelt, 1997. 4 P. Müller, Allgemeines Artensterben in Konstrukt? Game Conservancy Deutschland e. V. Nachrichten, Nr.
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