Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
mit besseren, objektiveren Maßstäben zu messen, zum Beispiel mit Hilfe der Körpergrößen. Ein wichtiger Vorteil: Sie sind leicht erfassbar, auch bei Leuten, die schon seit Jahrhunderten tot sind.
In vielen Fällen ist der Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Größe der Menschen unstrittig. So steigt die mittlere Körpergröße in den meisten Ländern der sogenannten Ersten Welt seit der Industrialisierung stetig an. Der durchschnittliche Europäer ist heute etwa zwanzig Zentimeter größer als vor 150 Jahren. Andererseits sinkt die mittlere Körpergröße spürbar in Zeiten von Krieg und Vertreibung, zum Beispiel während des amerikanischen Bürgerkriegs. Auch soziale Unterschiede machen sich bemerkbar: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die 14-jährigen Jungen aus der Unterschicht etwa einen Kopf kleiner als Gleichaltrige aus wohlhabenden Familien. Schwarzafrikaner im reichen Nordamerika sind deutlich größer als ihre ehemaligen Landsleute in Afrika. Schließlich lässt sich das mangelnde Wachstum der Kinder in Nordkorea recht eindeutig auf Hungersnöte und wirtschaftlichen Zusammenbruch zurückführen. Heute leben die größten Menschen in Holland und Skandinavien – Ländern mit hohem Durchschnittseinkommen und umfassender sozialer Absicherung.
Aber es gibt wichtige Ausnahmen, die verdeutlichen, wie viele verschiedene Dinge beim Wachstum der Menschen zusammenspielen. Ein Beispiel ist das sogenannte Antebellum-Paradoxon: In der Frühphase der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stieg das Pro-Kopf-Einkommen zwar deutlich an, die Menschen jedoch schrumpften, und zwar in allen bisher untersuchten Ländern. Wie ist das zu erklären? Warum tun die Menschen das? Man gibt ihnen mehr Geld, Eisenbahnen, moderne Fabriken – bessere Lebensqualität, möchte man meinen –, und sie werden zum Dank kleiner? An möglichen Erklärungen mangelt es keineswegs. Der Wirtschaftshistoriker Jörg Baten untersuchte das Phänomen anhand von Daten aus dem Münsterland. Dort war die Einführung der Eisenbahn schuld am Rückgang der Körpergrößen, allerdings nur in ländlichen Gegenden in direkter Umgebung der Großstadt. Der Grund: Produkte wie Milch und Eier konnten plötzlich auf dem lukrativen Markt in der Stadt verkauft werden, wodurch sich die Ernährungssituation auf dem Land verschlechterte. Gerade das Eiweiß der Kuhmilch ist von besonderer Bedeutung für den Wachstumsprozess. In manchen Gegenden findet man gar einen klaren Zusammenhang zwischen Körpergröße und Anzahl der Kühe pro Einwohner. Obwohl Eisenbahn und Kühe die Lebensqualität erhöhen, verursacht ihr Zusammenwirken unter Umständen ein Schrumpfen der Menschen.
Wie dieses Beispiel zeigt, können die Ursachen für die letztlich erreichte Größe der Menschen überaus komplex sein. Aus diesem Grund rufen Kritiker der Auxologie, zum Beispiel die amerikanische Ökonomin Mary Eschelbach Hansen, zu großer Vorsicht bei der vorschnellen Interpretation von Körpergrößen auf. Nicht in jeder Situation ist der Zusammenhang zwischen Lebensqualität und Körpergröße eindeutig und leicht durchschaubar. Manchmal hängt alles von scheinbar Nebensächlichem ab – zum Beispiel von Zügen und Kühen.
Hier nun eines der größten Rätsel der Auxologie: Die Europäer haben die Amerikaner überholt. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Nordamerikaner im Durchschnitt sechs Zentimeter größer als Europäer. Das Land war weit, die Möglichkeiten unbegrenzt, Nahrung im Überfluss vorhanden und ernsthafte Krankheiten Mangelware. Selbst schwarze Sklaven gerieten zu dieser Zeit deutlich größer als das europäische Bürgertum. Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Während in Europa seit zweihundert Jahren die Durchschnittsgrößen kontinuierlich ansteigen, hörten die Amerikaner einfach auf zu wachsen. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs betrug der Unterschied immer noch fünf Zentimeter, aber Mitte des 20. Jahrhunderts wuchsen die Europäer den Amerikanern über den Kopf. Heute sind Europäer im Mittel mehrere Zentimeter größer als US-Amerikaner. Die längsten Europäer, Holländer und Skandinavier, überragen die Amerikaner sogar um mehr als sieben Zentimeter. Und das, obwohl die Amerikaner seit etwa einem Jahrhundert die reichsten Menschen des Planeten sind.
Wo also ist hier der versprochene Zusammenhang zwischen Lebensstandard und Körpergrößen? Wenn es nicht das Geld ist, was ist es dann, das Europäer zu so ungebremstem körperlichem Wachstum
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